Vural Öger über Erdogan und den Türkeitourismus

Der Gewinner des Reisesommers 2014 steht noch nicht fest, aber es gibt einen klaren Favoriten. Und der ist die Türkei. Unter den Touristikakteuren besteht keine Skepsis an einer tollen Saison. Doch ein kleiner Risikofaktor schient für die Branche über den guten Erwartungen zu schweben. Die unberechenbare Größe ist der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Alle sind sich sicher: Der Sieger der jüngsten Kommunalwahlen im Land könnte einen düsteren Schatten auf das Geschäft mit der schönsten Zeit im Jahr werfen.

Kritisch Worte, die unter der Hand fallen, will kein Touristikvertreter der Türkei öffentlich aussprechen. Doch der langjährige EU-Abgeordnete der SPD und seit Januar V.ö. Travel Chef Vural Öger nennt die Dinge in einem Interview mit Peter Hinze von The Reception Insider beim Namen.

Der erfahrene Reiseunternehmer Vural öger stellt fest, dass für deutsche Touristen die Lage der Demokratie in der Türkei ziemlich egal ist. "Die Deutschen reisen immer, Hauptsache die Sonne scheint", sagt Öger.

Herr Öger, wie steht es mit der Internetzensur und was ist ihre Hauptsorge für die Türkei? Ich habe zwar kein Twitter-Account in der Türkei. Ich twittere überwiegend aus Deutschland. Daher betraf mich die Sperre in der Türkei nicht direkt. Als gebürtiger Türke interessiert mich die Internetzensur im Land natürlich sehr.

Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten. Ministerpräsident Erdogan betreibt eine extreme Polarisierungspolitik. Er will 45% Zustimmung für seine Politik haben, egal mit welchen Mitteln. Er weiß, oder er meint zumindest, dass er mit 45% der Stimmen überall und zu allen Themen eine absolute Mehrheit erreichen kann, weil die anderen Parteien untereinander zersplittert sind. Es geht allein um diese Mehrheit! Um das Ziel zu erreichen, geht Erdogan rigoros gegen politische Gegner und Informationsquellen vor, die gesellschaftliche Einflüsse haben. Wie das Internet. Kurz nach der Wahl hat das Meinungsforschungsinstitut IPSOS, eines der größten in der Türkei, eine Umfrage unter den AKP-Anhänger gemacht. Die Frage lautete in etwa: "Haben sie die Proteste, die Zensur und die Bestechungsvorwürfe gegen Erdogan in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst?"

Wissen Sie die Antwort? Kurz gesagt: 95% der AKP-Wähler interessieren sich gar nicht für die Korruptionsvorwürfe bzw. für die Beschneidung der demokratischen Freiheiten. Es mag Europa vielleicht nicht passen, aber politisch sitzt Herr Erdogan in der Türkei fest im Sattel. Die AKP hat im Land acht Millionen Mitglieder. Hinzu kommen deren Frauen und Kinder. Das sind schon eine Menge Menschen. Der Ministerpräsident hat alle enschuldigungen gegen seine Person und seine Regierungspartei immer wieder verneint. Mit extrem demagogischen Reden hat er all seine politischen Widersacher als Verräter benannt. Damit ist er beim Wähler angekommen. Ich war derjenige der Erdogan jahrelang, auch im EU-Parlament, unterstützt hat. Ich habe seine Reformen sehr gelebt. Aber heute wird klar, dass die Türkei nicht nur aus bäuerlichen Schichten besteht, aus Immigranten aus Anatolien oder aus bildungsfernen Schichten. Nein, es gibt so etwas wie ein Bürgertum in der Türkei. Eine urbane Gesellschaft. Nur leider interessiert sich Herr Erdogan für diese städtische Gesellschaft überhaupt nicht. 55% der Menschen fühlen sich durch seine Politik nicht vertreten.

Fest zu halten ist, dass sich die Türkei immer weiter von europäischen Werten entfernt. Das Ziel EU-Mitgliedschaft war noch nie so weit weg!