
Vollkommenheit im Islam

Unter allen religiösen Systemen erklärt allein der Islam, dass in unserem irdischen Leben individuelle Vollkommenheit möglich ist. Der Islam verlegt diese Erfüllung nicht auf die Zeit nach einer Unterdrückung der sogenannten «körperlichen» Begehrung, wie es die christliche Lehre tut; ebenso wenig verspricht der Islam eine fortlaufende Kette von Wiedergeburten mit zunehmend höherem Niveau, wie es beim Hinduismus der Fall ist; auch hat der Islam nichts mit dem Buddhismus gemein, demzufolge Vollkommenheit und Erlösung nur durch Aufhebung des individuellen Ich und seiner gefühlsmäßigen Bindungen an Weltliches erlangt werden können. Der Islam unterstreicht ausdrücklich die Feststellung, dass der Mensch während seines individuellen irdischen Lebens Vollkommenheit erreichen und zugleich vollen Gebrauch von allen weltlichen Möglichkeiten seines Lebens machen kann.
Um Missverständnisse zu vermeiden, muss der Begriff «Vollkommenheit» in dem Sinne definiert werden, in dem er hier verwendet wird. Solange wir es mit menschlichen, biologisch eingeschränkten Wesen zu tun haben, können wir die Vorstellung der «absoluten» Vollkommenheit unmöglich in Erwägung ziehen, weil alles Absolute ausschließlich in den Bereich der göttlichen Attribute gehört. Menschliche Vollkommenheit in ihrer wahren psychologischen und moralischen Bedeutung trägt notwendigerweise einen relativen und rein individuellen Zug. Diese Vollkommenheit bedeutet nicht den Besitz aller vorstellbaren guten Eigenschaften oder etwa die zunehmende Aneignung neuer Werte von außen, sondern lediglich die Entfaltung bereits vorhandener positiver Eigenschaften des Individuums, also seine angeborenen, sonst ruhenden Kräfte zu wecken. Aufgrund der natürlichen Mannigfaltigkeit des Phänomens Leben unterscheiden sich die angeborenen Eigenschaften des Menschen in jedem Einzelfall. Es wäre daher absurd anzunehmen, dass alle Menschen nach dem gleichen «Typ» von Vollkommenheit streben sollten oder etwa könnten. Es wäre so absurd wie zu erwarten, dass ein reines Rennpferd und ein reines, schwerfälliges Zugpferd genau dieselben Eigenschaften besitzen. Beide mögen für sich jeweils vollkommen und zufriedenstellend sein, aber sie sind eben verschieden, weil ihre ursprünglichen Merkmale verschieden sind.
Mit Menschen verhält es sich ähnlich. Wenn Vollkommenheit auf einen bestimmten «Typ» genormt würde wie das Christentum Vollkommenheit auf den Typ des asketischen Heiligen festlegt , dann müssten die Menschen ihre individuelle Verschiedenheit aufgeben, ändern oder unterdrücken. Dies würde jedoch eindeutig gegen das göttliche Gesetz der individuellen Mannigfaltigkeit verstoßen, welches das gesamte Leben auf dieser Erde beherrscht. Der Islam ist keine Religion der Unterdrückung und lässt deshalb dem Menschen einen sehr weiten Spielraum in seinem persönlichen und sozialen Sein, so dass die mannigfaltigen Eigenschaften, Temperamente und psychologischen Neigungen verschiedener Individuen gemäß ihrer jeweiligen Veranlagungen ihren Weg zu einer positiven Weiterentwicklung finden können.
Jemand kann also ein Asket sein oder das volle Maß seiner sinnlichen Möglichkeiten, innerhalb der festgesetzten Grenzen, ausschöpfen; er kann Nomade sein, der ohne Nahrung für den nächsten Tag in der Wüste umherschweift, oder ein wohlhabender, von seinen Waren umgebener Kaufmann. Solange er sich aufrichtig und bewusst den Gesetzen unterwirft, die Gott erlassen hat, hat er die Freiheit, sein persönliches Leben in der Weise zu gestalten, wie seine Natur ihn leitet. Es ist seine Pflicht, das Beste aus sich selbst zu machen und so das Geschenk « Leben», das sein Schöpfer ihm gab, in Ehren zu halten; auf diese Weise unterstützt er durch seine eigene Weiterentwicklung auch seine Mitmenschen bei ihren geistigen, sozialen und materiellen Bemühungen. Die Gestaltung seines individuellen Lebens ist jedoch keineswegs durch eine Norm festgelegt. Er ist frei, seine Wahl zu treffen zwischen all den zahllosen gesetzlichen Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen.
Die Basis dieses « Liberalismus»im Islam beruht in der Auffassung, dass das ursprüngliche Wesen des Menschen im Grunde gut ist. Im Gegensatz zur christlichen Vorstellung, der Mensch sei sündig geboren, oder im Gegensatz zur Lehre des Hinduismus, der Mensch sei seiner Herkunft nach niedrig und unrein und müsse sich mühsam durch eine lange Kette von Seelenwanderungen bis zum äußersten Ziel der Vollkommenheit hindurchquälen, behauptet die islamische Lehre, dass der Mensch rein geboren und im oben dargelegten Sinne potentiell vollkommen ist. Im Heiligen Koran steht: « Fürwahr, Wir erschufen den Menschen in schönster Gestalt. » Aber im selben Atemzug fährt der nächste Vers fort: « Alsdann machten Wir ihn wieder zum Niedrigsten der Niedrigen außer denen, die glauben und rechtschaffene Werke verrichten. » (Der Koran, 95:4-6)
In diesen Versen kommt die Lehre zum Ausdruck, dass der Mensch ursprünglich gut und rein ist; weiterhin, dass Unglaube und der Mangel an Rechtschaffenheit seine ursprüngliche Vollkommenheit zerstören können. Andererseits kann der Mensch diese ursprüngliche individuelle Vollkommenheit bewahren bzw. wiedergewinnen, wenn er sich bewusst die Einheit Gottes vergegenwärtigt und sich Seinen Gesetzen fügt. Deshalb ist nach dem Islam niemals das Böse das Wesentliche oder gar das Ursprüngliche; es ist vielmehr das menschliche Produkt aus seinem späteren Leben und hängt mit dem Missbrauch der angeborenen positiven Eigenschaften zusammen, welche Gott jedem Menschen verliehen hat. Diese Eigenschaften sind, wie bereits erwähnt, bei jedem Individuum unterschiedlich, aber immer in sich selbst potentiell vollkommen; und ihre uneingeschränkte Entfaltung ist möglich innerhalb des individuellen menschlichen Lebens auf Erden. Wir nehmen an, dass uns das Leben nach dem Tod infolge seiner vollkommen veränderten Bedingungen des Gefühls und Empfindungsvermögens andere, gänzlich neue Eigenschaften und Fähigkeiten verleihen wird, welche einen noch größeren Fortschritt der menschlichen Seele möglich machen werden; dies betrifft jedoch ausschließlich unser zukünftiges Leben. Die islamische Lehre erklärt ferner mit Nachdruck, dass jeder einzelne das ganze Maß an Vollkommenheit erreichen kann, indem er die positiven, bereits vorhandenen Charakterzüge weiterentwickelt, aus denen sich unsere Individualität zusammensetzt.
Von allen Religionen ermöglicht es allein der Islam, dass der Mensch sich des gesamten Aktionsradius seines irdischen Lebens erfreuen kann, ohne auch nur einen Moment seine geistige Orientierung zu verlieren. Wie grundverschieden ist dies von der christlichen Vorstellung! Dem christlichen Dogma zufolge ist die Menschheit mit der von Adam und Eva begangenen Erbsünde behaftet, und konsequenterweise wird das gesamte Leben – zumindest in der dogmatischen Theorie – als ein trübsinniges Tal von Leiden angesehen. Es ist das Schlachtfeld zweier entgegengesetzter Kräfte: des Schlechten, repräsentiert durch den Satan, und des Guten, verkörpert durch Jesus Christus. Der Satan versucht durch körperliche Versuchungen, das Fortschreiten der menschlichen Seele in Richtung auf die leuchtende Ewigkeit zu verhindern; während die Seele Christus gehört, ist der Körper das Spielfeld satanischer Einflüsse. Man kann es auch anders darstellen: die Welt der Materie ist im Grunde satanisch, während die Welt des Geistigen göttlich und gut ist. Alles, was in der menschlichen Natur materiell ist oder « fleischlich », wie es die christliche Theologie vorzieht zu nennen, wird als direktes Resultat davon betrachtet, dass Adam der Einflüsterung des höllischen Fürsten der Finsternis und des Materiellen erlag. Um Erlösung zu erlangen, muss deshalb der Mensch sein Herz weg von dieser Welt des Fleisches und hin zur künftigen geistigen Welt lenken, wo die « Sünde der Menschheit»durch den Opfertod Christi am Kreuz ausgelöscht wird.
Im Islam kennen wir nichts der Erbsünde Vergleichbares; wir betrachten derartiges als unvereinbar mit der Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit. Gott macht ein Kind nicht für die Handlungen seines Vaters verantwortlich: warum sollte Er dann all jene zahllosen Generationen der Menschheit für eine Sünde des Ungehorsams, die von einem Urahnen begangen wurde, verantwortlich machen? Es ist zweifellos möglich, philosophische Erklärungen für diese seltsame Annahme zu konstruieren, aber für den unverfälschten Intellekt werden sowohl diese Annahme als auch das Konzept der Trinität an sich immer erkünstelt und auch unbefriedigend bleiben. Und so wie es keine Erbsünde gibt, so gibt es in der Lehre des Islam auch keine allumfassende Vergebung für die Menschheit als Ganzes. Vergebung und Verdammung geschehen individuell. Jeder Muslim ebnet sich den Weg zum Heil selbst; er birgt in seinem Herzen alle Möglichkeiten des geistigen Erfolges oder Misserfolges. Über die menschliche Persönlichkeit heißt es im Koran: „Sie erhält, was sie verdient, und es kommt über sie, was sie verdient.“ (Der Kuran 2:286) Ein anderer Vers Sagt: „..und dass der Mensch nur erhält, warum er sich bemüht hat.“ (Der Kuran 53:39)
(Quelle:Muhammad Asad, Vom Geist des Islam) ( Ramadan 2011 )