
Kurven sind keine Katastrophe

Wer 1,70 Meter groß ist, kann 55 Kilo leicht und furchtbar stolz auf seine Jeansgröße sein oder auch 70 Kilo wiegen und ständig über Hüftspeck klagen. Gesundheitsprofis stufen beide Varianten als gesundes «Normalgewicht» ein. Selbst 80 oder 85 Kilo finden Mediziner bei dieser Größe nicht dramatisch. «LeichtesÜbergewicht» lautet die Diagnose.
«Ein Body-Mass-Index zwischen 18,5 und 25 ist in Ordnung, ein BMI bis 30 tolerierbar», hält der Ernährungs- und Gesundheitspsychologe Professor Joachim Westenhöfer aus Hamburg fest. Der BMI wird errechnet, indem man das Körpergewicht in Kilogramm durch Körpergröße mal Körpergröße teilt, dabei muss die Größe in Metern angegeben werden. Einen BMI von knapp 30 hat beispielsweise eine 1,70 Meter große Frau, die 85 Kilo wiegt – für Models wäre das ein Albtraum, etliche hungern sich unter den, auch schon ziemlich mageren Wert von 18,5. «Unser derzeitiges gesellschaftliches Schlankheitsideal ist alsUntergewicht zu qualifizieren», so Westenhöfers nüchterner Befund.
Ständiges Vergleichen mit anderen führt zu Essstörungen Was aus der Vogelperspektive der Wissenschaft wie eine weit verbreitete, aber möglicherweise vorübergehende Geschmacksverwirrung klingt, hat für den Alltag der Frauen zermürbende Folgen. Ständig wird geprüft, ob die Hüftknochen noch zu spüren sind, ob die Kollegin in engen Jeans weniger mollig wirkt als man selbst, ob eine Chance besteht, jemals wieder in den Disco-Fummel hineinzupassen, der einem mit 20 so gut stand.
Doch wer sich ständig mit anderen vergleicht, wer anfängt, Kalorien zu ermitteln und immer mehr Lebensmittel vom Speiseplan streicht, kann in eine Essstörung hineingeraten, warnt Professor Stephan Ahrens, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses Rissen in Hamburg, das auf die Behandlung von Bulimiepatientinnen und Magersüchtigen spezialisiert ist.
Schönheitsideal "jung, schön, schlank" Im Grunde hätten nicht nur diese Frauen und Mädchen ein Problem, urteilt Ahrens, sondern die Gesellschaft als Ganzes. «Jung, schön, schlank muss man sein, so bleiben, wie man ist, die ideale Ehefrau abgeben, nebenher zwei Kinder kriegen und natürlich Karriere machen». Die Vorgaben seien unerfüllbar, sagt der Professor. «Ich bin ja froh, dass ich zufällig ein Mann bin.»
Vorurteil «dick gleich faul und willensschwach» ist weit verbreitet Dabei hat die häufig überzogen wirkende Angst der Frauen vor jedem zusätzlichen Pfündchen zum Teil auch handfeste Gründe, sagt Ernährungspsychologe Westenhöfer. Studien in den USA hätten ergeben, dass übergewichtige Mädchen schlechtere Chancen hätten, von einem guten College aufgenommen zu werden, dass sie als Bewerberinnen im Vorstellungsgespräch eher aussortiert würden und dass sie bei der Partnerwahl häufiger einen sozialen Abstieg in Kauf nehmen müssten. In den USA bedeute jedes Pfund Übergewicht statistisch gesehen eine Einkommenseinbuße von 1000 Dollar (1058 Euro) pro Jahr. Das Vorurteil «dick gleich faul und willensschwach» sei weit verbreitet.
Der Normaltyp wird nicht zum Idol Tatsächlich ist die Veranlagung für Übergewicht und eine kräftigere Körperstatur zu einem guten Teil genetisch bedingt. Die Experten warnen deshalb auch vor dem weit verbreiten Irrglauben, der Körper ließe sich mit Diäten nach Wunsch manipulieren. «Nicht jeder kann aussehen wie Claudia Schiffer, sonst wäre sie kein Idol. Der Normaltyp wird nicht zum Idol», hält Westenhöfer fest.
Wer den Kreislauf aus guten Vorsätzen, Diätversuchen und neuerlichem Frust durchbrechen will, sollte seine Aufmerksamkeit von den berufsmäßig Dünnen abziehen und sich dem eigenen Inneren zuwenden, rät Mediziner Ahrens. Im Grunde gehe es darum, sich unabhängiger von den Erwartungen anderer zu machen. Manchmal brächten schon Gespräche mit einer Freundin Entlastung und neue Orientierung.
Auch bei Professor Westenhöfer steht beim Umgang mit leichtem Übergewicht nicht die Gewichtsreduzierung im Vordergrund. Es gehe vielmehr darum, einen gesunden Lebensstil zu entwickeln. Dazu gehörten beispielsweise ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung.
Abhilfe durch Sport Auch Sport kann helfen, die Freude am eigenen Körper wieder zu entdecken. «Dabei ist es gut, wenn sich die Betroffenen zunächst in einem Rahmen bewegen, in dem sie den Blicken anderer nicht so stark ausgesetzt sind», sagt der Psychologe Jörg Knobloch, Privatdozent an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Gut geeignet sind gelenkschonende Sportarten wie Fahrradfahren, Walken oder Schwimmen – am besten früh morgens oder spät abends, wenn nicht so viele andereauf den Beinen sind, rät Helge Knigge, in der Sporthochschule Köln im Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin tätig.
Gerade, wenn man sich im Trainingsanzug eher unwohl fühlt, ist es zudem hilfreich, eine Gruppe von Gleichgesinnten zu suchen, betonen Sportexperten. Die Gruppe gebe Halt und Sicherheit, und es sei einfach entlastend festzustellen, dass man im Dauerclinch mit sich selbst nun wahrlich nicht allein ist.