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Alt 13.08.2013, 21:29
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Standard Der Ergenekon-Prozess hat gezeigt, wie wenig interessiert die Türkei an Rechtsstaatli

Ergenekon-Prozess Ein neuer tiefer Staat in der Türkei

11.08.2013 · Der Ergenekon-Prozess hat gezeigt, wie wenig interessiert die Türkei an Rechtsstaatlichkeit ist: Eine Begegnung mit zwei Journalisten, die jetzt deshalb verurteilte Terroristen sind.
Von Karen Krüger
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Zwei türkische Journalisten - Karen Krüger befragt die beiden über die aktuelle angespannte politische Lage in der Türkei
© Kammerer, Bernd Zu kritisch: Adnan Türkkan, Chefredakteur von „Ulusal TV“ wurde zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt

In der Türkei muss man auf einiges gefasst sein, wenn man kritischer Journalist ist und außerdem Gegner von Erdogans AKP. In den Augen der Regierung seien das nämlich gleich zwei Sünden auf einmal, sagt Adnan Türkkan und Mehmet Sabuncu fügt hinzu: „Wir haben immer gewusst, dass es eines Tages schlimm werden würde für uns“. Am vergangenen Montag war es soweit: Seitdem sind die beiden Journalisten verurteilte Terroristen.Adnan Türkkan und Mehmet Sabuncu sind zwei der insgesamt 254 Angeklagten, die in der vergangenen Woche im türkischen Silivri im Ergenekon-Prozess verurteilt worden sind.

Türkkan ist Chefredakteur des Fernsehsenders „Ulusal TV“ und soll für zehneinhalb Jahre ins Gefängnis, Mehmet Sabuncu ist Herausgeber der Zeitung „Aydinlik“ und zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Die Redaktionen der beiden Journalisten sind in Istanbul, jetzt aber sitzen sie in einer Kellerwohnung am Frankfurter Mainufer und wirken trotz des Urteils zu allem entschlossen. Der Grund, warum es in ihrer Abwesenheit gefällt worden ist: Zusammen mit einem weiteren Kollegen, ebenfalls ein vermeintlicher Terrorist, sind sie Ende Juli nach Deutschland gereist, um an einer Konferenz teilzunehmen, in der es um die Gezi-Park-Bewegung und die Proteste gegen die Regierung Erdogan geht.
Ergenekon wurde zu einem Freibrief

Niemand wusste so genau, wann der Ergenekon-Prozess, der im Jahr 2008 seinen Auftakt genommen hatte, enden würde. Sabuncu sagt, sie hätten damit gerechnet, dass sie vor der Urteilsverkündung noch vor Gericht geladen werden. In rechtsstaatlichen Verfahren sei es schließlich üblich, dass man den Angeklagten und deren Anwälten ein Schlusswort gewährt. Die türkischen Richter aber übergingen das einfach: Sabuncu und Türkkan wurden nicht vorgeladen, und weder ihre noch die Anwälte der übrigen Angeklagten noch einmal angehört. Es war der Schlusspunkt einer Reihe von Missachtungen rechtsstaatlicher Prinzipien, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Verfahren zieht. Manche scheuen nicht einmal den Vergleich mit den stalinistischen Schauprozessen.

Als das Verfahren 2008 begann, schien es eine historisch einmalige Möglichkeit zu sein, endlich jene Machtstrukturen in der Türkei zu zerstören, die den Weg in eine echte Demokratie bisher versperrten: den tiefen Staat, der seinen Ursprung in der türkischen Armee haben soll und von dem angenommen wird, er manipuliere den politischen Prozess. Es verband sich damit auch die Hoffnung, dass endlich jene „unbekannten Täter“ bestraft würden, die für Hunderte von Morden im kurdischen Südosten des Landes verantwortlich sind. Groß war deshalb die Euphorie, als die türkischen Staatsanwälte nach einer Razzia im Juni 2007 zahlreiche hochrangige Militärs festnahmen, von denen gesagt wurde, sie hätten die Untergrabung der demokratischen Ordnung geplant.
Zwei türkische Journalisten - Karen Krüger befragt die beiden über die aktuelle angespannte politische Lage in der Türkei © Kammerer, Bernd

Soll für sechs Jahre ins Gefängnis: Mehmet Sabuncu, Herausgeber der Zeitung „Aydinlik“

Sogar Generäle im Ruhestand - bislang undenkbar in der türkischen Geschichte - wurden angeklagt. Außerdem Akademiker, Mafiosi und Polizisten. Der Name ihres angeblichen Verschwörerzirkels: Ergenekon (der Name geht zurück auf einen nationalistischen Mythos, demzufolge eine Wölfin den Stamm der Ur-Türken in einem Tal namens Ergenekon rettete). Das Ziel des Geheimbundes: Durch Attentate auf Christen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Unruhe stiften, und das anschließende Chaos für einen Putsch gegen die Regierung Erdogan nutzen.

Das alles klang plausibel für westliche Beobachter und türkische Ohren, denn das türkische Militär hat die Demokratie schon immer für eine schwache Staatsform gehalten und in den vergangenen Jahrzehnten gewählte Regierungen viermal aus dem Amt gedrängt. Doch die Erwartungen wurden bitter enttäuscht: Ergenekon wurde zu einem Freibrief, all jene zum Schweigen zu bringen, die sich der Ideologie der Regierung widersetzen.Der Geheimbund sei für praktisch alle politischen Attentate und Morde der vergangenen zwanzig Jahre verantwortlich, verkündete die Staatsanwaltschaft. Es handle sich um eine Organisation, die in fast jeden Bereich der türkischen Gesellschaft eingedrungen sei. Diese Behauptung öffnete Tür und Tor, um Regimekritiker aller Coleur zu verhaften.
Absurde Vorwürfe

Mehr als 300 Verdächtige wurden festgenommen, unter ihnen Universitätsprofessoren, Politiker der Opposition und kritische Journalisten wie Sabuncu und Türkkan. Anders als die meisten der Festgenommenen, die jahrelang in Untersuchungshaft ausharren mussten, ohne die Anklageschrift überhaupt zu Gesicht zu bekommen, kamen beide nach kurzer Zeit wieder frei. Adnan Türkkan legt einen Stapel Papiere auf den Tisch. Es ist die Anklagebegründung der Staatsanwaltschaft und das Urteil gegen ihn. Er hat nicht etwa Waffen gehortet oder Attentate verübt.

Die Staatsanwaltschaft macht ihre Anklage vielmehr daran fest, dass er während des Studiums mit Freunden die kemalistische Jugendorganisation TGB gegründet hat. Sie zählt inzwischen mehrere Hunderttausend Mitglieder, vor allem aus dem studentischen Milieu.Türkkan, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er nichts von der AKP hält, sagt: „Wir hatten das Gefühl, dass die türkische Jugend zu unpolitisch ist, dagegen wollten wir etwas unternehmen.“ Die Staatsanwaltschaft beurteilte das jedoch anders: Türkkan habe den Gründungsauftrag von Ergenekon erhalten, und die Organisation dann „für die Ziele der Terrororganisation“ eingesetzt.

Kundgebungen und Demonstrationen, die die TGB in den vergangenen Jahren zu verschiedenen Anlässen organisiert hat, interpretierte die Staatsanwaltschaft als bewusste Schwächung des türkischen Staatsapparates: „Das Gericht sagte, dass die Behörden sich wegen dieser Aktionen gezwungen gesehen hätten, sich mit der TGB auseinanderzusetzen. Dadurch seien von anderen wichtigen Dingen abgelenkt worden“, sagt der Journalist. Der Vorwurf ist so absurd, dass er lachen muss, als er’s erzählt. Was die Behörden seiner Ansicht nach in Wirklichkeit auf die Palme gebracht habe, sei seine journalistische Tätigkeit.
Unbequeme, kritische Journalisten

Nur so könne er sich die harte Strafe erklären: Seit 2010 gehört er zum Team des Fernsehsenders „Ulusal TV“, seit 2011 ist er dessen Chefredakteur. Der Sender war neben „Halk TV“ der einzige, der von Anfang an kontinuierlich und live von den Gezi-Park-Protesten und den Ausschreitungen der Polizei berichtete. Doch schon zuvor war „Ulusal TV“ bekannt für seinen kritischen Blick auf die Regierung Erdogan. Adnan Türkkan war der einzige türkische Journalist, der nach den Eskalationen in Syrien nach Damaskus reiste, um Baschar Al-Assad zu interviewen. Der syrische Ministerpräsident sagte vieles, das Erdogan nicht gefallen haben dürfte. Unter anderem warf er ihm illegale Waffenlieferungen nach Syrien vor.

Ähnlich unbequem für die türkische Regierung ist Sabuncus linksnationale Zeitung „Aydinlik“. Unter den zwölf Journalisten, die das Ergenekon-Sondergericht zu langen Haftstrafen verurteilt hat, stammen allein sieben aus deren Redaktion. Zuletzt machte die Zeitung von sich Reden, als sie Telefonmitschriften veröffentlichte, in denen Regierungsangehörige offenbarten, wie wenig sie sich dem Recht und den Gesetzen verpflichtet sehen. In einer der Mitschriften versucht Erdogan zum Beispiel einen einflussreichen Geschäftsmann davon zu überzeugen, ihm für das Studium seiner Tochter eine Finanzspritze zu gewähren. Sabuncu sagt: „So etwas in der Türkei zu veröffentlichen, ist eine journalistische Todsünde.“

Innerhalb von kürzester Zeit wuchs die Anklageschrift auf mehr als 4000 Seiten an. Im Auftrag der Johns Hopkins Universität und des Stockholmer Instituts für Sicherheit und Entwicklungspolitik fertigte der Türkei-Experte Gareth Jenkins im Jahr 2010 eine Studie an, die das Ergenekon-Verfahren durchleuchten sollte. Seine Ergebnisse sind niederschmetternd. Die Anklageschrift gegen die Verdächtigen sei durchsetzt von Widersprüchen, Spekulationen, Gerüchten und unlogischen bis wertlosen Feststellungen. Ermittelt werde etwa gegen Personen, weil diese eine Sicherheitsfirma mit dem Namen Ergenekon leiteten.

Auch finde sich eine Liste von Personen in der Anklageschrift, welche Ergenekon habe ermorden wollen - einer der genannten Namen taucht jedoch weiter hinten abermals auf, nämlich als einer der Anführer von Ergenekon. Schlimmer noch: Nach der Analyse von Gareth gibt es Ergenekon gar nicht, der Geheimbund erscheine in der Anklageschrift vielmehr als Hypothese. Er schreibt: „Es gibt keinen Beweis, dass Ergenekon existiert oder jemals existiert hat.“ Die Materialflut der Anklageschrift sei so überwältigend, dass sie davor abschrecke, den Fall genauer zu untersuchen. Sie diene als Schutzschild gegen jegliche kritische Analyse.
  #2  
Alt 13.08.2013, 21:29
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Und auch das, was sich während des Prozesses abspielte, hatte wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun: Entlastende Beweismaterialien verschwanden, unabhängige Gutachter stellten Manipulationen an digitalen Datenträgern fest. Zeugen durften von der Verteidigung nicht vernommen werden, aber illegal abgehörte Telefonate und anonyme Aussagen ließ das Gericht als Beweismaterial zu. „Die Gerichtsverhandlungen waren bisweilen so absurd, dass unsere Anwälte das Gefühl hatten, irgendjemand habe zuvor ein lustiges Drehbuch dafür verfasst“, sagt Sabuncu. In ein paar Tagen will der Journalist zurückfliegen in die Türkei. Er weiß, dass die Behörden seinen Pass bei der Einreise konfiszieren werden, denn so erging es dem Kollegen, der sich nach der Konferenz schon am Wochenende auf den Heimweg gemacht hatte.

Sabuncu nimmt das in Kauf, er möchte das Urteil anfechten. Auch Türkkan hat das vor, allerdings von Deutschland aus. Er hat sich entschieden, hier zu bleiben: „Gegen mich läuft schon ein Haftbefehl, die Polizei würde mich vom Flughafen direkt ins Gefängnis bringen.“ Einen Asylantrag stellen wird er nicht, denn das könnte als Eingeständnis einer Niederlage angesehen werden. Ein Frankfurter Anwalt bemüht sich derzeit darum, eine Aufenthaltserlaubnis als freiberuflicher Journalist für ihn zu erwirken. Türkkan sagt: „Der tiefe Staat ist nicht zerstört worden. Der Prozess hat einen neuen tiefen Staat offenbart.“

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