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Alt 24.08.2009, 20:25
MESSmerized
 
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Standard Soll ich loslassen?

Die beste Methode um seelischen Wachstum zu fördern ist das 'Loslassen' - es muss um jeden Preis erlernt werden. Man sagt, dass sich mit zunehmendem Geschick im Loslassen das positive Leben nahezu von selbst einstellt. Loslassen soll man zermürbende Umstände, Belastendes und Negatives gleich welcher Art und welchen Ursprungs, indem man es aus seinem Kopf und Herzen verbannt. Die Idee mit dem Loslassen kommt von ganz schlauen Köpfen, die glauben, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und sich eine besonders effiziente Vorgehensweise ausgedacht, um die Leute von ihren Problemen zu befreien. Hier das 'How to do' in drei Etappen.


'Etappe Nr.1 - Der Ankommende'


Bitte sich selbst einreden, dass man loslassen muss, was nicht gut für einen ist, denn sonst ist für das Positive kein Platz. Dann die Vorstellung einer Hand, am besten der eigenen, die sich öffnet und loslässt, damit sie Neues greifen kann, einfach hinterherschieben - that's all you have to do, ok?. Rookies lernen auf diese Weise belastende Emotionen und Erinnerungen loszulassen. Was das genau ist, kann im Zweifel nicht zur Befriedung der Beteiligten entschleiert werden, weil auch Unterbewusstes ein fester Bestandteil davon ist, aber alles was für schlechte Stimmung sorgt, bestürzt oder gar entzürnt, gehört in jedem Fall dazu. Am Besten funktioniert das, wenn kurz und schmerzlos losgelassen wird, und viel besser noch, wenn der Prozess einen netten Touch bekommt, deshalb wird jetzt ein Pappus in der Hand vorgestellt. Dann die Hand öffnen, den Pappus loslassen und seinem Davonschweben erleichtert und gelöst hinterherblicken. Das macht man ja, weil man ihn nicht mehr länger braucht - der Pappus kann sich nun dem Wind aushändigen und dahin fliegen, wo er von Nutzen ist. Wie das mit dem Loslassen aussieht, kann keiner so genau sagen, aber banale Ablenkung, in dem man unter die Leute geht, Gespräche mit guten Freunden, falls man welche hat, und neue Bekannschaften sollen dabei ebenso hilfreich sein, wie die therapeutische Wirkung des Schreibens.


'Etappe Nr.2 - Der Verstehende'


Anschließend, wenn man das Negative los gelassen hat, darf man bloss noch Positives denken und Positives wollen. Wisst ihr warum? Weil wer nichts Negatives denkt und will, auch nichts Negatives anstellen kann und wer nichts anstellt, kann dann auch kein Karma akkumulieren, zumindest kein negatives. Ab hier ist der nächste Schritt zu den Affirmationen nicht mehr weit. Plötzlich versteht man das es ein Gesetz der Anziehung gibt und wie diese funktioniert. Im Großen und Ganzen ist das clever durchdacht und weil die Vorstellung vom Pappus so überzeugend ist und Positives denken und wollen nichts Negatives sein kann, will man auch gerne ein Teil davon sein und legt halt mehr oder weniger mit dem Loslassen los. Bloß funktioniert der Rat "lass los" etwa genauso gut, wie die Empfehlung spontan sein zu sollen, nämlich gar nicht - und das ist ein Anlaß für echte Dankbarkeit, denn für den seelischen Wachstum ist Loslassen ungefähr so nützlich, wie für einen Alpinisten, der sich an einem Seil vertikal hochzieht. Ihm jetzt zu sagen, er soll das Seil loslassen, an dem er hängt, weil er sich kurz vor dem Gipfel beklagt, der Weg an die Spitze sei viel zu kräftezehrend und nervenaufreibend, ist fahrlässig und zeugt von totalem Unverständnis. Der tiefere Sinn unserer Inkarnationen besteht im Erwerb von interdependenten Selbstwissen und intensive, ja selbst inadäquate Gefühle und Gedanken sind im kontemporären Leben das, was dem Koch ein über Stunden eingekochter Fleischsaft in seinen Töpfen ist - nämlich konzentrierte Essenz. Diese konzentrierte Essenz ist die Basis vieler Speisen, man muss es kosten und sein wahres Wesen unter die Lupe nehmen und nicht einfach nur loslassen - das käme einem Wegschütten in den Abfluss gleich. Emotionen, vor allem die depressiven wie Gram, Groll, sind Relikte von und Memoiren an Lernprozesse vergangener Leben und es sind genau diese Empirien und Emotionen, die uns beim Lernen helfen, weil sie uns mit dem konfrontieren, das uns entspricht. Gleiches zieht Gleiches an.

Aber sie sind hinderlich und beeinträchtigen das positiv ausgerichtete Wohlbefinden im Allgemeinen und das spirituelle Lebensgefühl im Besonderen. Aus diesem Grund wird im jetzigen Leben auf Teufel komm raus versucht, sowohl den Lernprozess als solches zu vermeiden als auch das mit ihr verknüpfte Gefühl loszuwerden. Diese Gefühle bilden aber den Sockel, das Selbsterfahren ermöglicht und wenn wir schließlich dazu in der Lage sind, die für uns korrekten Verdikte zu treffen, verdanken wir es den von ihnen gelegten Grundlagen. Damit man kompletten Nutzen aus ihnen ziehen kann, muss man also nicht aussen, sondern mitten drin sein und das ist bestimmt nicht das gleiche wie loslassen!


'Etappe Nr.3 - Der alles Vollbringende'


Rafiniert werfen die Allerhellsten unter den ganz Klugen jetzt ein, dass sie gerade wegen des Prinzipes der Anziehung nicht nur Negatives loslassen, sondern auch Positives nicht mehr begehren, eben weil das Ei des Kolumbus darin liege alles loszulassen: Denn wer frei von allem Verlangen ist und sich auch von den dazugehörenden Gedanken und Gefühlen befreit hat, kann absolut nichts mehr anziehen, wird sozusagen nicht mehr von den kettenden Verwicklungen geknechtet und findet sogar als Kompensation den schnurstracksen Weg ins Nirwana. Dieser Ideengang scheint überzeugend, führt aber trotzdem in einen Teufelskreis, weil er davon ausgeht, Loslassen sei ein Entschluß, den man treffen oder eine Richtung, die man, wie auch immer, einschlagen könnte. Aber Loslassen ist weder eine Entschluß noch eine Richtung, sondern die letzte Etappe und Endsinn eines langen Wachstums. Ein Resultat verdammt harten Schaffens und müsste deswegen eigentlich "hat sich aufgelöst" oder "ist freiwillig gegangen" heißen, denn NUR wenn man ein Problem erfasst, von allen Seiten erfahren und unter die Lupe genommen hat und NUR wenn man immer eine harmonische und ausgeglichene Attitüde zu diesem Problem einnehmen kann und NUR wenn man weiß, wann welcher Entschluß zu diesem Problem warum die Angebrachte ist, DANN und NUR dann hat sich sämtliche Verknotung aufgelöst. Loslassen ist das Enddiplom für hartes Schaffen an sich selbst und sie wird verliehen, wenn das wahrhaftige Ziel erreicht ist und nicht dadurch, dass man den Kurs zum Ziel umäußert. Auch ein Student kann sein Diplom erst entgegennehmen, wenn er tatsächlich zig Semester studiert hat, er bekommt sie nicht dafür, dass er um das Diplom herumkriecht und "ich will ein Diplom, ich will ein Diplom" krächzt. Gehen wir mal davon aus, jemand hätte a.) eingesehen, dass er sein Drang nach von mir aus materiellem Wohlstand hinter sich lassen muss, um unverstrickt zu sein und gehen wir weiter davon aus, dieser jemand hätte b.) seine Erkenntnis tatsächlich in Verständnis umgesetzt, d.h. los- bzw. hinter sich gelassen. Nun sitzt er also auf dem höchsten Punkt seiner neuen, in Verständnis umgewandelten Erkenntnis und nachdem er sich ganz schön konzentriert und tiefgehend überlegt hat, lässt er seine Erfahrungen außer Acht, etikettiert sie in 'Richtlinien zum Loslassen" um und gibt die entzückende Botschaft, die sich zwischen den Zeilen verbirgt, an jeden weiter, dem sie von Nutzen sein könnte, d.h. so ziemlich an alle! Das alles ist vom fernöstlichem Ansatz spirituellen Glaubens gar nicht so weit entfernt und besagt, dass "du musst loslassen" so eine Art All-Inclusive-Paket sei - wer den Mechanismus ein einziges Mal in Zusammenhang mit was auch immer verstanden habe, hätte den Rest damit auch abgehakt. Ersteigt man einen Gipfel und will sich dann die Last weiterer Kletterei ersparen, sitzt man halt still auf seinem Gipfel und wartet darauf, dass irgendein Engel einen abholt und ins gelobte Land, mindestens aber zum nächsten Gipfel fliegt. Von Gipfel zu Gipfel fliegen klappt aber nicht und einen Gipfel erklettert zu haben langt nicht, denn das ist nicht das Ziel, sondern nur eine Etappe. Menschen müssen viele Gipfel stürmen, weil loslassen können - bzw. losgelassen werden, weil man's nicht mehr anzieht - für jede Einsicht neu erworben werden muss und Verständnis nur ein kleines Stück Verdichtung auflöst.


Was ich daraus gelernt habe ist folgendes: Das von vielen gepredigte Loslassen, ist nichts anderes als 'sich nicht darauf einlassen' oder 'weglaufen' und ist nur um den Preis totaler Verdrängung, mit welchen Methoden auch immer, zu erreichen - oder durch absolutes Ignorieren. Das wird dann zur spirituellen Höchstleistung aufgewertet und schon fühlt sich der komplette Prozess nicht nur viel mondäner an, es lässt sich sogar ausgezeichnet mit dem eigenen Gewissen vereinbaren - magenverdrehend...Die wo glauben, sie können sich in irgendeiner Ecke des Gipfels niederlassen, das Panorama genießen und ansonsten die Sinne abschalten und gar nichts mehr wollen oder brauchen, werden nicht sehr weit kommen. Spirituelle Wachstum führt auch mitten rein in die zahllosen Schluchten und Täler des Leids und jede weitere Bergspitze muss aufs Neue erstiegen werden - niemand kann uns die anstehenden Auf- und Abstiege ersparen.

Geändert von MESSmerized (24.08.2009 um 20:55 Uhr).