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Alt 19.02.2008, 00:07
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Standard Erdogans zahlreiche Zungen

FR 13.2.2008

Erdogans zahlreiche Zungen

VON VERA GASEROW
Der Mann ist ein Phänomen. So viel ist unbestritten. Mit seiner Kölner Rede vor
begeisterten Anhängern hat der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan in
Deutschland ein vielstimmiges Echo ausgelöst. Die kontroversen Reaktionen haben
dabei nur zum Teil mit unterschiedlichen Positionen in der Integrations- und
Türkeipolitik zu tun. Sie gehen auch auf das Konto eines Premiers, der bei seinem
Deutschlandbesuch in mehreren Zungen redete.
Auch Deutschtürken rätseln seitdem: Was hat er wirklich gesagt? Und was hat er
gemeint? Fest steht nur, Erdogan hatte bei seiner umstrittenen Rede in der Köln-Arena
kein schriftliches Manuskript. Es gibt auch keine Mitschrift. Medien haben nur
Einzelpassagen aus der Simultanübersetzung überliefert. Diese bieten in schillernder
Zweideutigkeit eine perfekte Projektionsfläche - für das deutsche wie für das
türkische Publikum. "Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", rief
Erdogan den Auslandstürken zu. Zugleich wird er aber mit dem Appell zitiert:
"Schickt eure Kinder in die besten Schulen, seht zu, dass sie von Anfang an Deutsch
und weitere Sprachen lernen. Geht in die Parteien, bildet Lobbys, strengt euch an."
Ähnlich hatten Erdogans Mahnungen zu mehr Integration beim offiziellen Teil seiner
Deutschlandvisite geklungen. Sie passen zu den mäßigenden Worten nach dem
Brand in Ludwigshafen, als er um Vertrauen in deutsche Polizei und Feuerwehr
geworben hatte. Hiesige Politiker atmeten auf.
Dass sich Auslandstürken in ihrer neuen Heimat integrieren, Deutsch lernen und
auch einbürgern lassen sollen, ist erklärte Politik Ankaras. Auch Erdogans Vorgänger
haben diese Linie vertreten - und dabei zugleich an den türkischen Nationalstolz
appelliert, den jetzt auch der amtierende Premier bedient hat.
Neu ist dagegen die scharfe Tonlage in Erdogans umstrittenster Äußerung
"Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Doch auch dieser Satz
lässt offenbar alle Interpretationen zu. "Erdogan hat nichts gesagt, was nicht
eigentlich auch Konsens in der deutschen Integrationspolitik ist", sagt Faruk Sen,
Chef des Zentrums für Türkeistudien.
Manche Migrantenverbände kritisieren, der Premier habe die Angst der
Auslandstürken vor Anpassungsdruck geschürt und sie als Vertreter der Türkei in
Deutschland instrumentalisiert. Anderen erscheint Erdogan als der erste Politiker, der
sich wirklich um sie kümmert. Aus eigenem Interesse. Denn die Türken in
Deutschland sind seine treuesten Wähler. Sie sind Lobby in und für Europa und
Geldbringer für die alte Heimat.
Erdogans Worte könnten so die Stimmung unter Migranten betonieren, sie seien in
erster Linie Türken und nicht Bürger Deutschlands. Kenan Kolat, Chef der
Türkischen Gemeinde, lobt daher, dass Angela Merkel sich nun mit einem "ich bin
auch Ihre Kanzlerin" direkt an die Deutschtürken gewandt hat. Vielleicht, meint Kolat,
"ist es ja eine Chance, dass ein türkischer Premier der deutschen Kanzlerin diesen
Satz aus dem Mund gelockt hat".