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Alt 06.10.2005, 06:17
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turgayatacan turgayatacan ist offline
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Standard Durchwachsene Bilanz des kemalistischen

Experiments.

....Denn die Aufnahme der Türkei ist das Symbol für ein gewaltiges und spannendes Projekt: Kann hier bewiesen werden, dass der Krieg der Zivilisationen nicht stattfinden muss? Sind die Europäer und damit der Westen in der Lage, zu Muslimen eine gleichberechtigte Beziehung aufzubauen? Gerade jetzt ist es unendlich wichtig, dass Europa sich dieser Herausforderung stellt." Läuft die EU hingegen vor ihr weg, wären nicht nur die Türken, sondern über eine Milliarde Muslime weltweit davon überzeugt, dass dies hauptsächlich "religiöse Gründe" habe - "ein verheerendes Signal", so Özel.

"Ich will nur eines: Konstantinopel!"

Und es wäre vermutlich auch das Ende einer großen, jahrhundertealten und bisher unerwiderten Liebe. Denn nicht erst seit Mustafa Kemal drängt die Türkei gen Westen. Schon der osmanische Sultan Mehmet der Eroberer, Sohn einer vermutlich griechischen Sklavin, wollte nicht die heiligen Städte Mekka und Medina. "Ich will nur eines: Konstantinopel!", sprach er 1452, da war er gerade mal 20. Ein Jahr später, am Himmel stand ein abnehmender Mond, der jetzt auf der türkischen Fahne zu sehen ist, gab er das Zeichen zum Angriff. Tags darauf, am 29. Mai vor 551 Jahren, kniete er nieder vor der größten Kathedrale der Levante, streute zum Zeichen seiner Sterblichkeit Erde auf sein Haupt, ließ einen Imam in der Hagia Sophia beten: "Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet." Damit besiegelte er den Untergang von Byzanz - und katapultierte Europa aus dem Mittelalter in die Neuzeit.

Seine Nachfolger, Kalifen des Islam und Herrscher über die Gläubigen, vergrößerten das Imperium, das in seiner Blütezeit fünf Millionen Quadratkilometer umfasste und von Nordafrika über ganz Arabien bis nach Ungarn und den Balkan reichte. Das Osmanische Reich war ein gigantischer Vielvölkerstaat, in dem Muslime, Juden und Christen weitaus friedlicher zusammenlebten als damals in Europa.

Nach 36 Generationen Herrschaft mussten die Osmanen abtreten von der Weltbühne; Mustafa Kemals Stunde hatte geschlagen. Der so geniale wie brachiale Militär und Landesvater wollte sein Land herausreißen aus dessen muslimischer, orientalischer Geschichte. "Wir müssen uns in jeder Hinsicht nach dem Westen ausrichten", befahl der Raki-trinkende Revolutionär, der 1938 an einer Leberzirrhose verschied, seinem Volk. Er ersetzte die arabische durch die lateinische Schrift, verbot den Männern den Fez, gab den Frauen das Wahlrecht, schaffte das Kalifat ab, verwandelte die Hagia Sophia in ein Museum, stellte die Religion unter staatliches Kuratel und verordnete dem einst multikulturellen Staat den westlichen Import des Nationalismus und eine Glorifizierung des Türktums.

Durchwachsene Bilanz des kemalistischen Experiments
Acht Dekaden und drei Militärputsche später war die Bilanz des gewaltigen kemalistischen Experiments durchwachsen. Einerseits präsentierte sich die Türkei bereits vor dem AKP-Sieg als das mit Abstand modernste islamische Land der Welt; es erwies sich als verlässlicher Partner des Westens, trat dem Europarat und der Nato bei und nahm Beziehungen zu Israel auf. Andererseits "passten sich die Kemalisten nicht der Realität an, sondern umgekehrt", so der Unternehmer Ishak Alaton. Die Lehre des Landesvaters lag zum Schluss wie ein Leichentuch über dem Land, verkommen zu einer fundamentalistischen Ersatzreligion und ausgenutzt von der Armee, um das Volk zu entmündigen, zu gängeln und ihm ständig neue Feinde aus den eigenen Reihen zu präsentieren - die Linken, die Kurden und zuletzt die Islamisten, die zu Tausenden im Gefängnis landeten. Und das Volk, "es verbarg sein Lächeln unter dem hängenden Schnurrbart sogar vor sich selbst", wie der große Dichter und Kommunist Nazim Hikmet einmal schrieb, der nach 13 Jahren Haft nach Moskau floh und dort starb, ohne seine Heimat je wiedergesehen zu haben.

Mit der Wahl der AKP jedoch wagten die Türken den Befreiungsschlag. Und während der Kemalismus mittlerweile so ausgestopft wirkt wie Mustafa Kemals Hund Foks, der im bombastischen Atatürk-Mausoleum zu bestaunen ist, hat sich Erdogan, Erbe sowohl des Islam als auch der kemalistischen Revolution dagegen, daran gemacht, den Staat und die Gesellschaft und die Türkei und ihre Geschichte miteinander zu versöhnen - und der Welt zu beweisen, dass eine muslimische Nation sehr wohl demokratisch sein kann. Was passieren würde, wenn Europa der Türkei den Beitritt verweigert, wurde er neulich gefragt. "Wir werden unseren Weg weitergehen, die Kopenhagener Kriterien wären dann unsere Ankara-Kriterien", antwortete er. Und dann fügte er hinzu: "Aber es würde vielen das Herz brechen."......

Stefanie Rosenkranz
Stern