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Alt 26.10.2003, 21:48
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henrymiller henrymiller ist offline
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Standard o.T.

Das Ende des Reiches (1839-1922)
Der Ausdruck "kranker Mann am Bosporus" stammt von Zar Nikolaus I. Alle europäischen Mächte sahen beim "Todeskampf" des osmanischen Reiches zu und hofften von der Hinterlassenschaft einen Teil zu bekommen.


Bedeutung Kemal Atatürks

Die Reformmaßnahmen bringen drei grundsätzliche Folgerungen zum Ausdruck, die Atatürk aus dem Niedergang des Osmanischen Reiches und dem Scheitern des Modernisierungsprozesses gezogen hatte. Die europäische Zivilisation hatte sich der des Osmanischen Reiches überlegen gezeigt. Um die Türkei aus Unterlegenheit und Abhängigkeit zu befreien, hielt Atatürk eine konsequente Verwestlichung von Staat und Gesellschaft für geboten. Atatürk folgte damit einem Trend unter den Jungtürken, den einer ihrer Vertreter 1913 so beschrieben hatte: „Es gibt keine zweite Zivilisation; Zivilisation bedeutet europäische Zivilisation, und sie muss eingeführt werden - mit ihren Rosen und ihren Dornen.”
Zum zweiten beendete er die Diskussion um die Identität der Türken und die Grundlagen ihres Staates durch Propagierung eines ausgeprägten Nationalismus. Das Türkentum wurde zur Nationalität der auf dem Gebiet des türkischen Staates lebenden Menschen erklärt. „Ne mutlu Türküm diyene” (wie erhaben ist es zu sagen: Ich bin ein Türke), galt als zentrales Bekenntnis. Noch wenige Jahre zuvor hatte eine sich als „osmanisch” fühlende Elite die „Türken” unter den Untertanen als unwissende Bauern und Hirten verachtet. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts hatten türkische Intellektuelle und Literaten begonnen, Stolz auf ihr Volkstum zu entwickeln - wie es Untertanen anderer Ethnien längst getan hatten.

Die Entdeckung der „türkischen Kultur” und die Reinigung der türkischen Sprache bildeten Kernelemente der Kulturpolitik des neuen türkischen Staates. Der radikale Anspruch des neuen Nationalismus zeigte sich unter anderem in der 1935 verkündeten Theorie der „Sonnensprache”. Danach sollen alle Sprachen von einer einzigen in Zentralasien gesprochenen Ursprache abgeleitet sein. Ihr sei das Türkische am nächsten, und alle Sprachen hätten sich aus der Ursprache heraus durch das Türkische hindurch gebildet. Trotz ihrer wissenschaftlichen Fragwürdigkeit genoss die Theorie eine Zeitlang politische Unterstützung von allerhöchster Stelle.

Der dritte Grundsatz war eine konsequente Säkularisierung. Der Islam trat als Identifikationsmerkmal in den Hintergrund. Die Religion hatte den Modernisierungsprozess des Reiches blockiert. Die islamische Reichsidee hatte darüber hinaus das osmanische Staatswesen in immer neue militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Nun sollte Religion zur Privatangelegenheit des einzelnen werden. Der Abschaffung des Kalifats entsprach die Abschaffung des Islam als Staatsreligion in der Verfassung von 1928. 1937 wurde das Prinzip des Laizismus - der Trennung von Religion und Staat - in die Verfassung übernommen: „Der Türkische Staat ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, etatistisch, laizistisch und revolutionär.”

Der „Kemalismus” ist weder eine Ideologie noch ein detailliertes Programm für gesellschaftliche Umgestaltung, kann jedoch als erster Versuch eines „eigenen Entwicklungsweges” bezeichnet werden, der späteren Reformern und Revolutionären im Nahen und Mittleren Osten als Vorbild gedient hat. Zu ihnen gehören Schah Reza Pahlawi (Persien), Präsident Habib Bourguiba (Tunesien), Präsident Gamal Abdel Nasser (Ägypten) und Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi (Libyen). Nirgendwo sonst aber ist die Transformation so radikal erfolgt, hat sie so anhaltende Wirkung gezeigt und wurde sie so kompromisslos durchgesetzt wie in der Türkei.

Widerstand und Aufstände, vornehmlich unter den Kurden, wurden unterdrückt. Zwei Experimente mit einem Zwei-Parteien-System wurden rasch beendet (zuletzt 1930/31), als sie außer Kontrolle zu geraten schienen.

Das neben dem Charisma Atatürks wirksamste Instrument zur Durchsetzung der kemalistischen Reformen wurde die 1923 gegründete „Republikanische Volkspartei” (CHP). In ihr organisierte sich die neue Elite seiner Anhänger. Sie setzten sich zum Teil aus ehemaligen Militärs zusammen. Ein 1923 erlassenes Gesetz verlangte, dass diese den Dienst quittierten, bevor sie sich politisch betätigten. Andere große Gruppen stellten die städtische Schicht von Bürokraten sowie lokale Eliten in Anatolien.

Kemal Atatürk ist zu seiner Zeit von den meisten Türken tief verehrt worden. Sein Todestag (10. November 1938) wurde bis 1987 als Tag der Staatstrauer und seit 1988 als Atatürk-Gedenktag begangen. Atatürks Büste steht an zahlreichen öffentlichen Plätzen in Stadt und Land, sein Porträt bzw. sein Foto hängen in allen Amtsstuben, und es gibt kaum eine öffentliche Veranstaltung, auf der er nicht in der einen oder anderen Weise bildhaft vertreten ist.