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Alt 28.12.2013, 21:43
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benekalice benekalice ist offline
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Jede Kritik prallte bei Gezi-Protesten an AKP-Wählern ab

Schon damals fragte man sich, inwieweit die AKP-Wählerschaft dieses Maß an Inhumanität verträgt. Wenn man sich unter die Wählerschaft mischte und sich umhörte, bekam man oft die Antwort, dass es Verfehlungen einzelner immer und überall gäbe, das sei halt so. Es ändere nichts daran, dass man sich auf dem richtigen Weg befinde. Einem Weg, der es ermögliche, Geld zu verdienen und seinem Gott zu dienen. Jegliche Kritik, die man an der AKP auf der Höhe der Gezi-Proteste übte, prallte an AKP-Wählern ab. Sie konterten unisono, dass es doch die AKP gewesen sei, die dafür sorgte, dass die Türkei eine rasant wachsende Wirtschaft geschaffen habe, die Arbeitslosigkeit senkte, Elend und Armut minimierte, das Gesundheitswesen reformierte, den Friedensprozess mit den Kurden einleitete und und und

... AKP-Wähler konnten das deshalb so schön auswendig aufsagen, weil Erdoðan jede Rede dafür nutzte, seine Erfolge in einfachen und eingängigen Sätzen zu vermitteln.


Und nun? Wenn Regierungsgegner wie am gestrigen Freitagabend erneut gegen die Regierung auf die Straße gehen und den Rücktritt des Premiers verlangen und die Polizei brutal und unnachgiebig dagegen vorgeht, ist das für einen treuen AKP-Wähler noch lange kein Grund, an den demokratischen und fürsorglichen Grundsätzen seiner Partei zu zweifeln. Wenn sich aber die Partei selber zerlegt, wenn Minister ihrem Premier nahelegen, das Amt niederzulegen, wenn oberste Richter und Staatsanwälte öffentlich versichern, dass ihre Ermittlungen behindert werden, weil sie sich gegen die Kinder der politischen Elite richten, dann wird das nicht am AKP-Wähler abprallen.
Verlass auf Gott – nicht auf Politiker

Aus der Ferne verbietet sich ohnehin ein Stimmungsbild. Doch alles was man über seine eigenen Kanäle mitbekommt, ist eine tiefe Ernüchterung gegen das Personal dieser Regierung. Treue Wähler verhalten sich ähnlich wie progressive Katholiken gegenüber der Institution Kirche. Sie berufen sich auf den Leitsatz: Die Idee ist gut, allein das Personal ist unfähig.

Die AKP war einmal angetreten, um es dem kemalistischen Klüngel, der Wirtschaftselite, um es denen "da oben" und "denen an der Macht" zu zeigen. Dann kam sie an die Macht und die Wählerschaft sah, dass die politische Elite reich wurde. Wenn die Türken nun sehen, dass da etwas vor sich geht, dass dazu führt, dass Minister "freiwillig" gehen, wenn Millionendollarbeträge in Schuhkartons auftauchen, wenn Ministersöhne in Untersuchungshaft sitzen, dann könnte das zu einer tiefen politischen Resignation führen, zu noch mehr Rückzug in die Religion, nach dem Motto: Es ist ja doch nur auf Gott Verlass und nicht auf diese Politiker.

Es ist eine so häufig benutzte Formulierung, dass man sie eigentlich vermeiden möchte: die Rede von der gespaltenen türkischen Gesellschaft. Der Spalt geht nicht nur durch Atatürk-Anhängerschaft und Erdoðan-Anhängerschaft. Er verläuft auch durch die Parteien-Anhängerschaft selbst. So wie es innerhalb der kemalistisch-republikanischen CHP einen Riss zwischen den "alten Eliten" und der jungen Generation gibt, gibt es auch einen Riss innerhalb der AKP. Noch in diesem Sommer hieß es unter gut ausgebildeten, jüngeren AKP-Wählern hinter vorgehaltener Hand, dass man sich für den Premier, sein grobes Benehmen und seinen fehlenden Kunstsinn schäme. Mit vollem Namen wollte keiner zitiert werden. Doch es gab sie und sie trösteten sich damit, dass wenigstens Staatspräsident Abdullah Gül eine bessere Figur machte und häufiger den besseren und besonnenen Ton traf.

Doch das sind alles Stimmungsbilder, kleine Ereignisse und Erlebnisse, die einem aus dem mehrmonatigen Aufenthalt aus der Türkei in Erinnerung geblieben sind. Was man jetzt bräuchte, wäre eine seriöse und repräsentative Umfrage unter der Wählerschaft, um herauszufinden, ob sich die Anhänger selber auch aufregen oder nur wieder die Opposition. Doch solche Umfragen sind nur in echten Demokratien möglich.