Elif Shafak - Mein Land steht kopf.
Einer der *objektivsten* Analysen der Staatskrise in der TR, die ich in den letzten Wochen lesen durfte - möchte ich euch nicht vorenthalten.
Vielleicht inspiriert dieser schöne Artikel von Shafak ja den einen oder anderen, einen aufgeklärteren/humaneren Ton hier anzuschlagen.
Fluch und Segen
Mein Land steht kopf. Zur Lage in der Türkei.
Von Elif Shafak
Eine alte chinesische Verwünschung lautet: »Mögest du in interessanten Zeiten leben.« Wir Türken leben derzeit in überaus interessanten Zeiten. Täglich, stündlich passiert bei uns etwas Unerwartetes. Ist es ein Fluch oder ein Segen, in interessanten Zeiten zu leben? Wohl von beidem etwas. Anstrengend scheint es allemal. Es ist nicht leicht, Türke zu sein.
Die Entwicklung in der Türkei wird von den westlichen Medien aufmerksam verfolgt, aber nicht immer ist ihnen klar, worum es geht. Manche Journalisten stellen die jüngste Krise als einen Kampf zwischen »Säkularisten« und »Islamisten« dar. So einfach ist es nicht. Wer die türkische Politik analysiert, sollte sich vor täuschend simplen Begriffen hüten. Zunächst einmal kann man die regierende AKP nicht als »islamistisch« bezeichnen. Sie mag uns gefallen oder nicht, »fundamentalistisch« agiert sie nicht. Sie hat während ihrer Regierungszeit mehr für den EU-Beitritt getan als jede andere türkische Partei. Sie ist aufgeschlossener als die Sozialdemokraten, was überfällige Reformen angeht. Mit einem Wort, die AKP ist westlicher als viele ihrer Gegner. Zweitens sind nicht alle türkischen Säkularisten Demokraten. Einige plädieren ganz offen für einen Militärputsch, fordern eine Intervention der Armee. Und zur Opposition gehören ja auch nationalistische, antiwestliche Gruppierungen. All das macht die Türkei zu einem Land, in dem politische Etiketten ziemlich unscharf sind und die »islamistische« Regierungspartei fortschrittlicher handelt als die oppositionellen »Sozialdemokraten«. Hinzu kommt, dass die Armee einen gewichtigen politischen Faktor darstellt. Die politischen Verhältnisse in der Türkei sind verwickelt. Wer die Dynamik dieses Landes verstehen will, muss auf Klischees verzichten und Nuancen beachten.
Ausgangspunkt der gegenwärtigen Krise war die Nominierung von Abdullah Gül für die Präsidentenwahl. Das Amt selbst ist weitgehend repräsentativ, aber der Staatspräsident hat das Recht, Gesetze zu blockieren. Außerdem gilt das Amt als »Haus Atatürks«, und insofern besitzt es für die gesamte Nation enorme Symbolkraft. Es steht für Modernisierung, Westorientierung und Säkularismus. Kaum war Abdullah Gül nominiert, kam die Frage auf, ob er der richtige Mann sei.
Gül ist seit einigen Jahren türkischer Außenminister und in weiten Teilen der Gesellschaft sehr beliebt. Er ist umgänglich, locker, freundlich. Er hat ein gutes Verhältnis zu den kritischen Intellektuellen. Er trat für Meinungsfreiheit ein und hat sich öffentlich für eine Änderung des Paragrafen 301 (Beleidigung des Türkentums) eingesetzt, während viele seiner Parteifreunde einen solchen Schritt ablehnen. Kaum jemand hatte Vorbehalte gegen Gül persönlich. Allerdings gab es ein Problem: Seine Frau trägt das muslimische Kopftuch, das in staatlichen Institutionen verboten ist. In einem Land, in dem Symbole eine so wichtige Rolle spielen, muss das weitreichende politische Auswirkungen haben. Güls Kandidatur, von der er nun zurückgetreten ist, löste große Besorgnis aus. Bei dem Gedanken, eine Kopftuch tragende Frau könnte die First Lady der Türkei sein, wurde vielen Türken unwohl. Sie sehen den säkularen Charakter des Staates gefährdet.
Doch das ist nur die eine Seite der Geschichte. Die andere Seite ist die Armee. Das türkische Militär hat immer eine zentrale Rolle in der Politik des Landes gespielt, manchmal versteckt, oft unverhüllt. Vergangene Woche veröffentlichte die Armee eine Warnung auf ihrer Website. Diese Erklärung wurde als ein kleiner »E-Putsch« interpretiert, passend zum Zeitalter des Internets.
Nach der Warnung der Armee zogen mehr als 700000 Demonstranten durch Istanbul und riefen regierungskritische Parolen. »Die Straße zum Präsidentenamt ist für Imame gesperrt«, hieß es auf einem der Transparente. »Wir wollen keine First Lady mit Kopftuch«, stand auf einem weiteren. In anderen Städten fanden ähnliche Kundgebungen statt. Gleichwohl waren die Demonstranten eine bunt zusammengewürfelte Mischung unterschiedlicher, wenn nicht gegensätzlicher Gruppen und Stimmen. Kennzeichnend für die Protestkundgebungen war die große Zahl weiblicher Teilnehmer. Türkische Frauen sind politisch zunehmend aktiv, auch wenn die Zahl der weiblichen Abgeordneten noch sehr klein ist. Dies ist ein Streit über Frauen und von Frauen. Es ist das Erscheinungsbild von Frauen, um das heftige ideologische Kämpfe ausgetragen werden. Die große Frage lautet: Werden Frauen mit und ohne Kopftuch einander respektieren?
Die Türkei ist ein Land, dessen Modernisierung seit je von einer politischen und kulturellen Elite angestoßen und durchgeführt wird. Wer vertritt die Nation? Die Elite? Die Armee? Die Konservativen? Jede Gruppe betrachtet sich als einzige Vertreterin des Staates, ohne zu bedenken, dass die Nation uns allen gehört. Interessanterweise haben die antiwestlichen Hardliner in der Türkei und die antitürkischen Hardliner in Europa vieles gemeinsam. Beide halten Islam und westliche Demokratie für unvereinbar. Beide sind gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Der gemeinsame Boden von antiwestlichen Türken und turkophoben Europäern ist ihre Fremdenfeindlichkeit.
Die Präsidentenwahl ist inzwischen für ungültig erklärt worden, und die Nation stellt sich auf Neuwahlen ein – der einzige Ausweg aus dieser verfahrenen Situation. Wie in vielen anderen Ländern gibt es auch in der Türkei politische Differenzen. Die meisten Türken sind gegen den islamischen Fundamentalismus und gegen einen erneuten Militärputsch. In einer Demokratie lassen sich Meinungsverschiedenheiten nur auf demokratischem Weg lösen. In der nächsten Zeit werden wir noch mehr gegenseitiges Verständnis zwischen den demokratischen Kräften in der Türkei und in Europa benötigen. Wir leben in einer Übergangsphase. Wir sind dabei, Demokratie zu lernen. Das mag ein wenig dauern. Doch eines steht fest: Die Türkei ist zu dynamisch und für den Westen zu wichtig, als dass er sie verlieren darf. Sind die Brücken zwischen der Türkei und der Europäischen Union einmal eingerissen, wird das negative Auswirkungen nicht nur für die Demokraten in der Türkei, sondern auch für ein multikulturelles Europa haben.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Die Schriftstellerin (36) lebt in der Türkei und in den USA. Zuletzt erschien von ihr im Eichborn Verlag »Der Bastard von Istanbul«.
DIE ZEIT, 10.05.2007 Nr. 20
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