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Alt 27.04.2005, 11:26
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Türkische Paranoia (2)

Die türkische Paranoia hat eine lange Tradition. Sie ist die Folge eines verspäteten Nationalismus, der sich nur in einem Kampf um Leben und Tod behaupten konnte. Leidtragende dieser tragischen und blutdurchtränkten Geschichte waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die nichttürkischen Minderheiten Anatoliens und die muslimische Bevölkerung auf dem Balkan. In diesem dunklen Kapitel versteckt sich seit 90 Jahren auch der von den Türken an den Armeniern verübte Völkermord.


Der Schriftsteller Orhan Pamuk hat den Völkermord an den Armeniern Völkermord genannt, wofür er nun angefeindet wird. Wird das, was geschehen ist, nämlich die fast gänzliche Vernichtung des armenischen Volkes auf anatolischem Territorium, harmloser, wenn man es Massaker nennt, statt Völkermord? Der überwiegende Teil der türkischen Presse führt derzeit eine infame Kampagne gegen den Autor, aus der demagogisch und propagandistisch aufgeladenen Bevölkerung kommen Morddrohungen.


Es gibt freilich auch kritische Meinungen gegen diese Art des perfiden Umgangs mit dem international renommierten Schriftsteller. Doch der Türkei fehlt eine geistige Elite, die ein Gegengewicht gegenüber der demagogischen Aufwiegelung der Massen darstellen könnte. Es gibt nichts, was man vergleichen könnte mit dem Widerstand der Intellektuellen in Osteuropa, der sich seinerzeit unter der kommunistischen Herrschaft gebildet hatte. Es sind vor allem einzelne Stimmen, die sich kritisch äußern, ungebündelt und somit auch ohne spürbare Wirkung. Wenn die Türkei wirklich europäisch werden will, müßte sich aber eine solche geistige Elite bilden, die sich Gehör verschaffen kann. Doch nicht wenige Autoren scheinen selbst vom Bazillus des Nationalismus infiziert zu sein.


Nicht wenige werten Orhan Pamuks Äußerungen als billige Medienstrategie, als den Versuch eines Schriftstellers, sich im Westen beliebt zu machen. Andere sehen nicht die exemplarische Tragweite der Debatte um den Völkermord. Denn wer die Geschichte eines Volkes nur als Heldengeschichte auf blütenweißem Papier liest und die blutigen Flecken, die sich darin befinden, geflissentlich übersieht, hat keine Chance, eine selbstkritische Gesellschaft und eine Immunität gegenüber den Versuchungen des Nationalismus aufzubauen.


Wie aber kann sich Freiheit von Meinung und Lehre in öffentlichen Schulen und Universitäten entfalten, wenn der Staat eine bestimmte Ideologie propagiert? Ein Nationalstaat, der sich ideologisch festgelegt hat, neigt fast immer dazu, ein totalitäres System zu bilden. Er ist ein Feind der offenen Gesellschaft, des kritischen Diskurses. Eine europäische Türkei aber braucht ein Staats- und Gesellschaftssystem, das gerade auch die sensiblen und umstrittenen Themen offen und frei debattiert. Eine mit dem Mond- und Sternenbanner beflaggte Türkei, auf deren Straßen sich Lynchstimmung gegen Andersdenkende und Minderheiten breit macht, deren Polizei auf wehrlose Demonstrantinnen einprügelt, ist wohl genau das Gegenteil davon.


Nein, die Türkei in gegenwärtiger Verfassung, das ist kein Land auf dem Weg nach Europa. Nicht geringe Schuld an dieser eskalierenden Lage trägt die Regierung. Obwohl sie fast eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament besitzt und ein eindeutiges Mandat für die Reformierung des Landes bekommen hat, hat sie es bis jetzt versäumt, die auf dem Papier stehenden Reformen wirklich in die Tat umzusetzen. Statt dessen verhält sie sich, wahltaktisch motiviert, zögerlich gegenüber den schrillen Tönen der Nationalisten, ja stimmt von Zeit zu Zeit selbst mit ein.