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Alt 15.01.2005, 23:08
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turanyuecelxx turanyuecelxx ist offline
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die grossen unbekannten

Made in Turkey

Waschmaschinen, Autos, Fernseher: Viele Deutsche kaufen Produkte von Koç – ohne es zu wissen. Der türkische Industriekonzern drängt nach Westeuropa



"ÇELIK" heißt der Spielzeugroboter, der für die Koç-Tochter Arçelik wirbt
© DZ
Wenn Bülend Özaydýnlý aus dem Fenster schaut, blickt er nach Europa. Auf einen Teil des Kontinents, der jünger wird statt älter und der wächst statt stagniert.



Der Blick von einem Hügel auf der asiatischen Seite der Stadt ist atemberaubend: Frachter und Fähren ziehen über das glitzernde Wasser des Bosporus, auf der gegenüberliegenden Seite der Meerenge, auf dem europäischen Ufer, ragen die Minarette der Hagia Sophia in den Himmel, etwas weiter rechts die Bürotürme des modernen Istanbul. Diesen Zipfel Europas beherrscht Özaydýnlý schon. Die Taxis, die sich dort hupend durch die Gassen drängeln, stammen fast alle aus seinem Imperium, ebenso die Kühlschränke und Klimaanlagen, die in den Wohnungen der Zwölf-Millionen-Stadt surren, oder die Fernseher, auf denen sich ihre Einwohner an diesem Abend das Fußballspiel Galatasaray Istanbul gegen Olympiakos Piräus anschauen werden. Das Bier dazu kaufen sich viele in einem Laden aus Özaydýnlýs Reich, mit Geld, das sie bei einer seiner Banken abgehoben haben. Özaydýnlý ist der mächtigste Manager dieses Landes, er führt die Koç Holding.

Koç (gesprochen: Kodsch) ist in der Türkei, was in Deutschland Siemens, Metro, BMW, die Commerzbank, Hapag-Lloyd und noch ein paar Fleisch- und Milchproduzenten gemeinsam wären. Rund 55000 Menschen arbeiten für Koç, mehr als dreieinhalb Prozent des türkischen Bruttosozialprodukts stammen von dieser Firmengruppe. Praktisch in jedem türkischen Haushalt findet sich ein Produkt von einer der 100 Tochterfirmen. Jeder kennt ihre Marken.

Wenn Bülend Özaydýnlý nach Europa blickt, schaut er selten aus dem Fenster.

Immer am Freitag versammelt der 55-Jährige seine wichtigsten Manager, dann beugen sie sich über die jüngsten Exportdaten, studieren Verkaufszahlen und diskutieren, wie weit sie vorangekommen sind – bei ihrem Vormarsch auf Europa. Denn der Riese Koç will weiterwachsen, vor allem im Ausland, vor allem in Europa. „Das ist Teil unseres strategischen Plans“, sagt Özaydýnlý. Heute macht Koç ein Drittel seiner Umsätze mit dem Ausland. „In fünf Jahren“, erklärt der Konzernchef, „sollen es 50 Prozent sein.“

Firmensitz im Pascha-Palast

Die Koç-Tochter Beko Elektronik ist bereits der drittgrößte Produzent von Fernsehgeräten für den europäischen Markt. In diesem Jahr soll sie zur Nummer zwei aufsteigen. Andere Töchter bauen gemeinsam mit Ford und Fiat Autos – für den türkischen Markt und für den Export. Der Ford Transit Connect und der Fiat Doblo gehen von der Türkei in alle Welt. Arçelik, die Tochter für Haushaltsgeräte, verkauft ihre Waschmaschinen, Staubsauger und Kühlschränke längst bei Karstadt. Oft unter fremdem Namen. Dann steht „Sanyo“ auf der Waschmaschine oder „Grundig“ auf dem Fernseher – dabei stammen sie vom Bosporus. Hunderttausende Deutsche haben längst ein Koç-Produkt in ihrer Küche oder in ihrer Garage stehen. Nur wissen sie das nicht.

In der Türkei ist Koç nicht nur eine bekannte Firma, sondern auch der Name der inoffiziellen ersten Familie des Landes. Vehbi Koç gehörte zu den wichtigsten Industriepionieren der Türkei. 1926, drei Jahre nach der Staatsgründung, übernahm er den Krämerladen seines Vaters in Ankara. Schon bald entwickelte er daraus eine Vertretung für ausländische Konzerne, verkaufte Autos von Ford und Öl von Standard Oil. Dann produzierte er selbst – Streichhölzer, Glühbirnen, Kabel und den ersten türkischen Pkw, den Anadol. 1996 starb der Gründer. Das Firmenimperium, das er hinterließ, liegt immer noch weitgehend in der Hand der Familie.

Heute residiert die Koç-Holding in einem restaurierten Pascha-Palast hoch über dem Bosporus. Gerne schmückt man sich mit der glanzvollen Vergangenheit des Osmanischen Reiches. Gerne zitieren Vehbi Koçs Nachfahren einen patriotischen Leitsatz des Gründers: „Ich lebe und entwickle mich mit meinem Land.“ Doch längst arbeiten sie daran, sich von der heimatlichen Scholle zu lösen. Aus guten Gründen. Der türkische Markt gilt als labil, erst vor zwei Jahren erschütterte eine schwere Finanzkrise das Land. Außerdem braucht Koç größere Stückzahlen, um seine Kosten niedrig halten und gegen die wachsende Konkurrenz globaler Konzerne bestehen zu können. „Es ist deshalb eine Notwendigkeit für uns, im Ausland zu wachsen“, sagt Özaydýnlý. Fügt aber auch an: „Wir wollen um 14 Prozent pro Jahr wachsen, das ist ein sehr aggressives Ziel.“ Erreichen lässt sich das nur, wenn man andere schluckt. Schon hat die Haushaltsgeräte-Tochter Arçelik („das Flaggschiff bei unserem Vorstoß nach Europa“, wie es bei Koç heißt), vier kleinere Konkurrenten aufgekauft, darunter Blomberg in Deutschland, Elektra Bregenz in Österreich und Leisure in Großbritannien. Derzeit verhandelt Koç darüber, ob es Teile des in Konkurs gegangenen Grundig-Konzerns kauft. Und es sollen noch größere Eroberungen bevorstehen: „Ich kann es noch nicht offiziell verkünden“, sagt Özaydýnlý, „aber wir sind dabei, einen sehr bekannten Markennamen zu übernehmen, der in ganz Europa präsent ist.“

Große Pläne. Große Töne. Hebt da einer ab auf seinem osmanischen Feldherrnhügel? Özaydýnlý wirkt eher zurückhaltend, geduldig hört er sich Fragen und Kritik an, nimmt sich Zeit für die Formulierung seiner Antworten. Zwar verweist der an der American University of Beirut ausgebildete Konzernchef ebenso gerne wie seine Manager-Kollegen in aller Welt auf die großen strategischen Pläne, denen er folge. Aber viel öfter spricht er von etwas viel Bodenständigerem: von Kosten und von Qualität. Da läge Koçs Vorteil.

Werksbesuch. Über die Schnellstraße geht es in Richtung Osten, vorbei an den Hochhaussiedlungen, die Istanbul umringen. Dreimal piept es kurz im Auto – in der Türkei funktioniert die automatische Mauterfassung tadellos –, dann kommt das Industriegebiet von Çayýrova in Sicht. Dort betreibt die Koç-Firma Arçelik eine Fabrik für Waschmaschinen.

Schon auf den ersten Blick wird klar: Das ist keine Dritte-Welt-Klitsche, in der auf Teufel komm raus produziert wird, ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt. Das Fabrikgelände ist grün, voller Bäume und Sträucher, dazwischen liegen Tennis- und Basketballplätze, eine riesige Sporthalle und hochmoderne Bürogebäude. Das ganze Ensemble könnte genauso in Gütersloh oder Düsseldorf stehen. Einzig „Nazar Boncug˘u“, der kreisrunde, weiß-blaue Glücksbringer über dem Haupteingang, erinnert an den Standort Türkei. Und die vielen Gemälde und Fotos, von denen der Firmengründer auf seine Angestellten herabblickt. Vehbi Koç ist in seinem Imperium so allgegenwärtig wie Kemal Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, im ganzen Land.

Was sich rund um die Ölgemälde und Bronzebüsten des alten Koç abspielt, dürfte beiden gefallen – dem Firmengründer wie dem Staatsgründer. Im Zentrum des Werks, einer Halle, groß genug für Schiffe, spucken drei Montagestraßen im Minutentakt Waschmaschinen aus. „In der ersten Linie 1,6 Maschinen pro Minute, in der zweiten 0,5 und in der dritten 2,5“, sagt Elektroingenieur Tufan Demirer durch den Lärm der Greifer, Pressen und Bohrer. Gearbeitet wird in drei Schichten, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. „Zum Jahresende“, erklärt Demirer nach einem Blick auf seinen Spickzettel, „werden wir 1,9 Millionen Maschinen produziert haben.“ Zwei Drittel davon für den Export. Alle Maschinen kommen vor ihrer Auslieferung auf einen computergesteuerten Prüfstand. Genau 2,5 Prozent der Geräte landen außerdem in einem Labor am Ende der Halle, an dessen Glastür „KGB“ steht – die offizielle Abkürzung für die Spezialisten der Qualitätskontrolle, die noch aufwändigere Tests vornehmen.

Damit alles reibungslos funktioniert, ist jedem Arbeiter detailliert vorgeschrieben, wie er die Maschinen an seinem Platz kontrollieren und warten muss und wie er das zu protokollieren hat. „Wir arbeiten nach japanischen Standards“, erklärt Demirer, der selbst in Deutschland aufgewachsen ist. Fünf Jahre habe es gedauert, alles darauf auszurichten und zu perfektionieren. Dann errang das Werk vor zwei Jahren eine Auszeichnung vom Japan Institute for Plant Maintenance – „Beste Waschmaschinenfabrik der Welt“.

Koçs Vorteil bei Kosten und Qualität, von dem Özaydýnlý spricht, entsteht nicht zuletzt durch die straffe Organisation. Aber natürlich helfen auch die niedrigen Löhne am Standort Türkei. Etwa vier Euro brutto, inklusive aller Sozialabgaben, zahlt Arçelik für einen Arbeiter pro Stunde. Wenig im Vergleich zu Westeuropa und doch viel im Maßstab der Türkei. Im Metall-Tarifvertrag, dem Arçelik unterliegt, zahlt es einen besonders hohen, für Großbetriebe geltenden Satz. Und „selbstverständlich“, wie Demirer anfügt, „gibt es auch Urlaubsgeld und Überstundenzuschläge.“ Außerdem bekommen die Arbeiter in der Kantine kostenlos Frühstück, Mittag- oder Abendessen, sie werden von einem eigenen Busdienst zur Arbeit gebracht – und in Pausen dürfen sie das Sportzentrum nutzen. Der Kostenvorteil von Arçelik, er hat ein soziales Gesicht.

Schon mehrfach hat das Unternehmen in seinem Heimatland Auszeichnungen erhalten, etwa als „Angesehenste Firma der Türkei“ (2001 und 2002, vergeben von der türkischen Ausgabe von Capital). Immer häufiger kommen internationale Preise dazu (so 2000 der European Quality Award). Arçelik ist nicht nur Koçs Flaggschiff bei der Eroberung der Weltmärkte, in ihm spiegelt sich auch der Aufbruch eines ganzen Landes wider. Einer Türkei, deren wirtschaftliche Stärke längst größer ist, als es das Gezerre um den Einlass in die EU suggeriert. Koç profitiert von diesem Aufbruch, und es treibt ihn voran.

Nirgendwo wird das deutlicher als in der Universität, die Koç in Istanbul gestiftet hat.

„Kennen Sie das Buch The Big Ten von Jeffrey Garten?“, fragt Uni-Präsident Attila As‚kar zur Begrüßung. „Darin prognostiziert er, dass die Türkei zu den zehn wichtigsten Industrienationen der Zukunft gehören wird.“ Garten ist Dekan der Yale School of Management, Attila As‚kar einer der größten Optimisten der Türkei. Der Uni-Chef hat selbst in den USA promoviert, wie fast alle Professoren auf seinem Campus. Schaut man sich dort um, kann man As,kars Optimismus verstehen. Mehr als 60 Gebäude verteilen sich auf einem riesigen Areal, ihre Architektur und ihre Ausstattung erinnern an traditionsreiche Eliteschulen in Amerika. Die Studiengebühren sind Amerika pur: 12000 Dollar pro Jahr. Ein Drittel der Studenten erhält ein Stipendium, Voraussetzung für alle sind Bestnoten, unterrichtet wird in Englisch. Die Elite, die hier ausgebildet wird, soll international sein.

„Für die Türkei öffnet sich ein window of opportunity“, sagt As,kar. „Unsere demografische Entwicklung war noch nie so günstig.“ Sie ist das genaue Gegenteil der deutschen Situation: Die türkische Gesellschaft wird immer jünger, und zwar in rapidem Tempo. Der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung wächst stark an, bis 2010 soll er bei fast 70 Prozent liegen (1970 waren es nur 48 Prozent). „Wenn es uns gelingt, diese Generation gut auszubilden und in Jobs zu bringen, dann haben wir eine rosige Zukunft“, schwärmt As,kar. Seine Universität mit 3000 Studienplätzen kann dazu nur einen kleinen Beitrag leisten. Aber die Koç-Stiftung, die neben dieser Uni mehr als ein Dutzend Schulen gegründet hat, ist zum Vorreiter einer breiten Bewegung geworden. Heute gibt es mehr als 20 private Universitäten in der Türkei, und längst haben auch traditionsreiche Schulen, wie die deutsche oder die italienische Schule in Istanbul, neue Konkurrenz bekommen – private und öffentliche. Selbst die allgemeine Schulpflicht ist verlängert worden. Bildung hat einen höheren Stellenwert.

Gleichzeitig baut die Türkei in atemberaubendem Tempo ihr Rechts- und Sozialsystem um, arbeitet an der Sanierung der Staatsfinanzen, selbst die Inflation wird inzwischen wirksam bekämpft – sie sank im vergangenen Jahr auf knapp unter 20 Prozent, den niedrigsten Wert seit 1976. Sichtbarster Ausdruck für den neu gewonnenen Optimismus: Die Regierung hat angekündigt, bei der türkischen Lira sechs Stellen zu streichen (1700000 Lira entsprechen heute einem Euro) und einen kompletten Neuanfang zu wagen.



(c) DIE ZEIT 22.01.2004 Nr.5