Thema: Philosophie
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Alt 05.05.2004, 09:46
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rhizome rhizome ist offline
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Standard Warum reden? Warum schweigen?

Seit 3 Jahren habe ich die Lust an Kommunikation gänzlich verloren, führe keine langen, weltbewegenden, tiefschürfenden Gespräche mehr, keine "intensiven", langen Telefonate, die mich den epischen Monologen, suizidären Kamikazeseelsorgen und melancholischen Jammertiraden von FreundInnen hilflos ausliefern. Alles, was im Zuge eines brutalen Laberflashes so easy auszusprechen ist, alles, was so easy vom Herzen auf die Zunge gehoben werden kann (vielleicht, weil es gar nicht von Herzen kommt?), alles, was inflationär mit zig-Freundinnen an der Strippe "bequatscht" werden kann - kann so substantiell nicht sein, oder? Wurde nicht alles schon gesagt, viel besser, und das schon vor 2000 Jahren? Was hast DU mir zu sagen, DU im besondern, was ist DEINE einzigartige, aus deinen Eingeweiden blutende Wahrheit, würde ich meine phrasendreschende Freundin Britta oftmals gerne anschreien am Telefon. Menschen erzählen heutzutage kaum mehr etwas, das auch etwas aussagt, das mit Leib und Seele gesagt wird, was man noch nicht aus dem Munde von Big-Brother-Ulla vernommen hat oder in der Brigitte-Psychotest-Auflösung nachlesen könnte. Und von der Rolle des "natürlichen" Kommunikators ("Ich Tarzan ? du Jane ? wir sofort zeugen Thronfolger Bimbo!") sind wir übergegangen in die von Subjekten, die eine kommunikative Schockwelle nach der anderen erleiden, und nolens volens eine astronomische Menge an Informationen, an Daten, Zahlen aufnehmen. An Statistiken, Erhebungen, Meinungen. Aber was noch augenfälliger ist: je mehr man sich unterhält, desto weniger sagt man. Eine der peinlichsten Phänomene unserer Zeit ist es, dass Menschen nicht mehr kommunizieren können, und wenn sie es doch tun, dann ist es in der Regel eine Unterhaltung, die zum Niedergang verdammt ist, wie ein sterbender Ballett-Schwan. Eine latente Furcht vor eindeutigen Aussagen und ein halbherziger Enthusiasmus für die Logico-Ästhetik des Diffusen hat sich breit gemacht. "Eigentlich" - "irgendwie" - "sozusagen" - drei der am meisten gebrauchten und missbrauchten Idiome in meinem Bekannten- und Freundeskreis: "Eigentlich habe ich ja nichts gegen Türken" (und uneigentlich?) "Diese Hose steht dir nicht so richtig irgendwie?" (ja, wie steht sie mir denn nun genau?) "Die Juden haben sozusagen Ausschwitz eigentlich nicht selbst verschuldet irgendwie." (häh? Erde an Hampelmann! ? What the @!#$ is your standpoint?) Das, was hier eingefügt wird, ist nicht wirklich ernsthaft gemeint, es spezifiziert nicht die implizierte Bedingung, auf die sie sich bezieht, auch sagt die Einfügung nichts über die Qualität des Statements aus, nicht einmal als White Noise kann sie bezeichnet werden. Worauf bezieht sie sich also? Höchstens macht sie eine Aussage über den Redner: ein (dialektisch betrachet) etwas exhibitionistischer Mensch, dessen Kultur "überdurchschnittlich" zu sein vorgibt. Die sub-semantischen Einfügungen "irgendwie" und "eigentlich" und "sozusagen" sind das Produkt des gegenwärtigen, angeblich entideologisierten und gleichermassen neo-liberal-spätkapitalistisch normierten Zeitalters, verarmt an weltanschaulichen und moralischen Bezugspunkten und Sicherheiten, rational und spirituell verunsichert. Zeichnen diese unscheinbaren Füllworte nicht die paradoxe Kartographie eines zum Dikat gewordenen Werterelativismus und der Unverbindlichkeit? Oder sind sie eine Art anti-musikalische Untermalung zu den Sätzen, die diese sinnentleerten Unmelodien ein wenig erweitern und denen sie kulturelle Tiefe zu verleihen intendieren? "Irgendwie" - was für ein linksfüssiger Ausdruck, substanzlos, überflüssig. Dennoch: "irgendwie", "sozusagen" und andere vergleichbar blutarmen Füllsel gehören zum Standardrepertoire im sprachlichen Alltagsgebrauch eines fake-kultivierten Menschen. Sicherlich, im Prozess der Zivilisierung, der exzessiven Desinformation von kommunikationsunfähigen Kommunikatoren, muss der kleine Everyman jeden Tag eine Flut an Daten und News über sich ergehen lassen und eine Welt ertragen, in der Ereignisse erst medial generiert werden müssen, bevor man über sie sprechen kann ---- ergo benutzt er diese Sätze als Waffe, um sich zu verteidigen, im festen Glauben daran, sich selbst zu schützen vor diesem omni-globalen Prozess, an dem er gefälligst teilzuhaben hat, aber auf den er grösstenteils freiwillig verzichten würde. Diese aufgezwungene Teilhabe an einer paradoxen Logik und Sprachtradition, diese Selbst-Identifikation mit einem Lebenskonzept oder einfach mit dem zum Gemeinplatz gewordenen Fakt, dass Juden Auschwitz de facto NICHT selbst verschuldet haben, aber dass die (sich gegenwärtig in der postmodernen Auflösung befindliche) Kommunikationskultur solch ein klares moralisches Statement als Diktat begreift und ergo verunmöglicht... blablabla. Nicht wahr? Menschen benutzen diese Sätze, benutzen Sprache, um eine Identität zu begründen, ohne zu wissen, dass der Gebrauch eben jener belanglosen Einfügung "eigentlich" die Annihilierung des Selbsts impliziert. Wer keine klare Aussage treffen und nicht Stellung beziehen kann, nimmt sich im Akt der Kommunikation unbewusst zurück ? bis er/sie sich als Subjekt der Aussage selbst auslöscht. Das Heilrezept: lieber öfters schweigen! Weil --- in einer Welt, in der eh keine Stellung mehr bezogen werden darf, avanciert Stille zum Klang von Qualität und Cleverness. Von Vertrauen in die Zukunft und nicht zuletzt ins eigene Selbst. "Lass deine Rede besser sein als das Schweigen ? oder schweige !" wie es Dionysos formuliert.

:-)))))