Wenn alle Kulturen in sich selber die höchste Wertigkeit finden und es kein ´Gesetz´ über ihnen gibt, dann hat die exterminatorischste Kultur dieselbe Daseinsberechtigung wie alle anderen. Zwar verletzt sie den Sinn der Geschichte, indem sie die kulturelle Vielfalt reduziert. Doch mit welchem Recht könnte man sie daran hindern? Glaubt sie doch ernsthaft, andere Kulturen und Völker ausrotten zu müssen, um selber leben zu können. Sogar in diesem Glauben folgt sie noch ihren eigenen Werten. Auf den kulturalistischen Hasen wartet längst ein wohlbekannter Igel: Mit welchem Recht könnte man den Nationalsozialismus verurteilen? Die Versklavung der Osteuropäer und die Vernichtung der Juden gehörte zur essentiellen Besonderheit − zur "Differenz" − der emergierenden NS- Kultur. Diese liefert das konsequenteste Exemplum dafür, wohin die Selbstermächtigung einer Kultur treibt, ihre "Eigenart" mit denjenigen Mitteln zu verteidigen, die sie selber für geboten hält. In demselben Maße wie die Geltung universalerWerte entschwindet, hört Auschwitz auf, ein Verbrechen zu sein. Lévi-Strauss hat das fundamentale Dilemma aufgerissen, das man in der Unesco immer zugedeckt hielt und nicht ansprechen durfte. Ansonsten wäre man vor die Entscheidung gestellt worden: Universalismus oder Ethnopluralismus/Multikulturalismus. Denn eine Kultur als "gleich" anzuerkennen, deren moralische, religiöse oder politische Erfordernisse vorsehen, gewissen menschlichen Gruppen das volle Menschsein abzusprechen, andere teilweise zu entrechten, ist widersinnig. Den Grund dieses Widersinns kann jeder gebildete Europäer leicht einsehen, der sich auf die griechischen Grundlagen unserer Kultur besinnt: Der Begriff der Gleichheit ist ein wesentlich politischer und setzt voraus, dass die Gleichen sich ein und demselben Gesetz unterstellen und gleichen Ansprüchen gehorchen. Besinnen kann sich freilich nur, wer nicht in kollektiver Amnesie verblödet. Halten wir fest: Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Fortschritt wird aufgefangen in der Antwort, die Kulturen seien gleich. Doch gleich können sie nur sein, wenn sie untereinander inkommensurabel werden. Sind sie inkommensurabel, dann zerbricht der Begriff der Einheit des Menschengeschlechts. Erinnern wir uns: Auch der Rassismus zerbricht die Einheit des menschlichen Geschlechts − das ist sogar seine einfachste Bestimmung −; doch er verliert nicht per se die ´Weltgeschichte´, denn rassistische Modelle lassen sehr wohl die Kulturen miteinander kommunizieren und einander tradieren. Ganz anders bei Lévi-Strauss: Er eliminiert die Denkmöglichkeit einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit restlos.

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