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Alt 30.03.2010, 19:02
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So verwandelte sich K zu einem Menschen der reinen Theorie. Er, der fasst nichts von der der Welt gesehen hatte, unterrichtete besonders gern Geographie. Die Vorlesung gehörte zu seinem beliebtesten überhaupt. Einmal schilderte K im Gegenwart eines gebürtigen Londoners die Westminister Bridge so detaliert, dass sich der verblüffte Engländer sich danach erkundigte, wieviel Jahre denn K in London gelebt und ob er etwa Architektur studiert habe. Ein anderes mal belehrter er einen Graf aus der Steiermarkt darüber, was für Federvieh man in der Steiermarkt antrifft, wie die Steiermarkt so aussieht und auf welcher Stufe der Aufklärung der katholischer Geistlicher dort stehe. Über all dieser Dinge widersprach er ir, erinnerte sich der Graf irritiert. Reisen, rausgehen und die Welt mit allen Sinnen wahrnehmen, sie erfahren? Das ist nichts. Körper ist nichts. Empfindungen sind nichts. Vernunft, Vernunft, Vernunft. Sich die Welt mit Vernunft aneignen, das ist alles. Die Welt geistig erobern, sie geistig bezwingen, auch die Welt des Körpers.
Bei seinem Rückzug in die Vernunft und in den Geist, klammerte K alles aus was nicht Geist und nicht Vernunft war und nahm schliesslich Vernunft und Geist fürs Ganze. Irgendwann hatte K seinen Körper und dessen Grillen dermassen im Griff, dass es ihm sogar gelang seinen Durst geistig zu löschen. Wenn er im Bett lag und ihm der Durst überkam, brauchte K wie früher oder wie alle anderen Menschen aufzustehen und sich im Finstern ein Wasser zu holen, nein. Er tat einfach folgendes; er nahm ein paar Atemzüge und trank gleichsam Luft durch die Nase, wodurch der Durst in wenigen Sekunden völlig gelöscht war, erklärt K in seinem Werk von der Macht des Gemüts, dem blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein. Der Durst war ihm letztlich auch nur ein krankhafter Reiz, der durch einen Gegenreiz im Handumdrehen ausgemerzt werden konnte. Die Unterdrückung des Körper ging so weit, das K schliesslich seinen Körper nur noch schemenhaft wahrnahm. Als Fremden, als einen Fremdkörper. So kam es auch, dass K zunächst nicht bemerkte, dass er auf seinem linken Auge blind geworden war. Erst als er sich eines Tages auf einer Bank, von einem Spaziergang ausruhte und beim Zeitung lesen einen kleinen Versuch startete um herauszufinden mit welchem Auge er besser sehen könne, stellte er überrascht aber beunruhigt feststellte, dass er auf seinem linken Auge nichts mehr sah. Er hakte es ab.
K ging nicht schlafen, wenn er müde war, sondern um 10. Er aß nicht wenn er hunger hatte, sondern um eins. Er ging nicht spazieren, wenn er gerade Lust dazu verspürte, sondern abends um 7. Richtig unangenehm wurde es ihm, auf seinem Spaziergang einem Bekannten zu begegnen bestand nur noch die Gefahr, dass er seinem gewohnten Schritte beschleunigen musste und ins Schwitzen geriet. K hasste Schweiss. Aber K wäre nicht K gewesen, wenn er auch nicht diese letzte Laune seines Körpers in den Griff bekomme hätte. Weder in der Nacht, beobachtete ein Freunder, der K in seinen letzten Jahren begleitete und gepflegt hat, noch bei Tage transpirierte K.
Die eiserner Disziplin zahlte sich aus. Zehn Jahre dachte K nach. Dann brachte K seine Gedanken zu Papier. Er schrieb die Kritik der reinen Vernunft. Die Werke sprudelten jetzt nur so aus K's Geist heraus. Er war ja auch nur noch Geist und damit frei. K befasste sich mit dem Problem der Moral und schrieb frei bist du, wenn du deiner Vernunft und nicht deinen Gefühlen folgst. Jeder Tat der auf Neigungen beruht, kann keine Gute, kann keine moralische Tat sein. Ein frecher Zeitgenosse, ein Dummkopf, ein gewisser Schiller hat sich über diese Maxime lustig gemacht; "Gern diene ich den Freunden, doch tu es leider mit Neigung, so wurmt es mir oft, dass ich nicht Tugendhaft bin." K hingegen meinte; "Es ist eher zu ertragen, dass jemand böse in Grundsätzen ist, als im guten inkonsequent." K wurde langsam berühmt und alt, er ging schon auf die 80 zu, er wurde schwach. Auch sein Diener Lampe wurde alt und schwach. Und als dieser sich dem Suff hingab schmiss K dem armen Kerl, mit dem er 40 Jahre lang zusammengelebt hatte, kurzerhand raus und kritzelte in sein Notizbuch; "Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden."
K's Tage waren gezählt, er hatte sein Werk abgeschlossen. Er hatte seinen Selbstversuch vollendet. Vieles was einmal in ihm gelebt hatte war nun tot. Von irgendeiner Regel abgetötet, abgeregelt. In jüngeren Jahren scheint K sich nicht an einer festen Regel gebunden, sondern vieles auch des Vergnügens wegen getan zu haben, schreibt sein erste Freund und Biograph, damit mit seinem ersten Leben, seinem lebendigen Lebem hatte K schluss gemacht. Mit welchem Resultat? Wie lautet die Bilanz, seines Selbstversuchs? Hat ihm der Rückzug in die reine Vernunft Glück gebracht? Einigen ausstehenden, die ihn bewunderten mag es so erschienen sein. Er selbst sah es nicht so, im Gegenteil. Seinen Freunden gegenüber klagte er; "Mein Leben von Anfang an so leben zu müssen, wie ich es gelebt habe, das möchte ich um keinen Preis."
Nacht für Nacht legte sich der alte K hin, wickelte sich in seine Decke wie eine Mumie und schlief ein, in der Hoffnung nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Und dann, in seinem letzten Lebensjahr, sehnte er sich plötzlich nach Reisen, nach weiten Reisen. Als ihm einer seiner Freunde ein Landhäuschen vorschlug antwortete K begeistert; "Gut, wenn es nur weit ist. Und Kafee" verlangte er "Kafee!" schrie er "Kafee!" Und drehte fast durch wenn diese nicht gebracht wurde. Pfeilschnell eilte der Bediente in das schon kochende Wasser zu schütten, ihn aufziehen zu lassen und heraufzubringen. Doch wehrte ihm dieser kurze, doch erforderliche Zeit ewig lange.
Das Ende vor Augen liebte er auch die Musik wieder. Und wenn nur eine ordinäre Parade an seinem Haus vorbeizog, lies er Türen öffnen und lauschte voller Hingabe. Aber K's Uhr war abgelaufen. Die Verwandlung lies sich nicht mehr rückgängig machen. Am 12. Februar um 1804 um 11 Uhr vormittags starb K. "Es ist gut", sollen seine letzten Worte gewesen sein. In einer neuen Biographie heisst es über K, Immanuel Kant, Deutschlands bedeutesten Philosophen; Solange er zurückdenken konnte ist K nie ganz frei von einem leichten Schmerz gewesen. Es war ein Drücken unter der Brust, dass ihm nie verlassen hat. Das war aber auch das einzige Übel über dass er sich ab und zu beschwerte, wogegen er sich von Dr. Trummer, seinem alten Schulfreund, Pillen geben lies. Er führte es auf seine enge und flache Brust zurück, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge zu wenig Spielraum lies.

Quelle: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft von Bas Kast.

Geändert von outoforder (30.03.2010 um 19:05 Uhr).