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				 "Wie ein Gastarbeiter aus Südostanatolie 
 SZ  13.2.2008
 "Wie ein Gastarbeiter aus Südostanatolien"
 
 Mischt sich der türkische Ministerpräsident Erdogan in "innere Angelegenheiten" ein
 oder entlarvt der Protest gegen seine Äußerungen zur Integration vielmehr seine
 Kritiker? Deutsche Politiker streiten weiter heftig.
 Grünen-Chefin Claudia Roth hat der Union vorgeworfen, den jüngsten Deutschland-Besuch
 des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu
 Wahlkampfzwecken missbrauchen zu wollen. "Hier wird wieder unglaublich viel
 Porzellan zerschlagen", so die Grünen-Vorsitzende heute in der Augsburger
 Allgemeinen. Sie wirft Unionspolitikern "eine bewusste Missinterpretation" von
 Erdogans Aussagen gegen eine Assimilation der in Deutschland lebenden Türken
 vor.
 "Erdogan hat klar gesagt: Integriert Euch, lernt Deutsch". Noch nie zuvor habe ein
 türkischer Ministerpräsident so deutlich zur Integration aufgerufen. "Herr Erdogan
 wird behandelt wie früher ein Gastarbeiter aus Südostanatolien", fügte Roth hinzu.
 Auch der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen
 Ausschusses im Bundestag, distanzierte sich von der Kritik am türkischen
 Ministerpräsidenten. Dessen Regierung sei "die erste in der Türkei, die nicht nur
 erkannt hat, dass die Türken, die dauerhaft in Deutschland leben, sich hier
 integrieren müssen, sondern auch etwas dafür tut", sagte der frühere CDU-Generalsekretär
 der Frankfurter Rundschau.
 So sorge sie etwa für eine bessere Vorbereitung der muslimischen Imame, die in die
 Bundesrepublik kämen. In seiner Kölner Rede habe Erdogan die Türken in
 Deutschland aufgefordert, Deutsch zu lernen, sich zu bilden und so den
 gesellschaftlichen Aufstieg hierzulande anzustreben. Polenz: "Wir sollten verstehen,
 dass Heimatgefühl nichts exklusives ist. Man kann sich sehr wohl in seiner Heimat
 Deutschland zu Hause fühlen, ohne das Land der Eltern oder Großeltern zu
 vergessen."
 FDP-Generalsekretär Dirk Niebel gab ebenfalls in der Frankfurter Rundschau zu
 bedenken: "Die angemessenen Worte der Mäßigung zur Bewertung der Lage nach
 der schmerzlichen Brandkatastrophe von Ludwigshafen stehen im krassen
 Widerspruch zu der Kundgebung für eine Klein-Türkei in Deutschland." So wirkten
 Erdogans Aufforderungen zur sprachlichen Integration eher wie ein
 Lippenbekenntnis.
 Erdogan hatte am Sonntag in Köln die in Deutschland lebenden Türken zur
 Integration aufgefordert, zugleich aber vor völliger Aufgabe ihrer kulturellen Identität
 (Assimilation) gewarnt. Zuvor hatte er türkischsprachige Bildungseinrichtungen
 vorgeschlagen.
 Der SPD-Europaparlamentarier und Unternehmer Vural Öger forderte, die
 Äußerungen des türkischen Regierungschefs nicht überzubewerten: "Erdogan ist ein
 emotionaler Mensch und schießt auch schon mal übers Ziel heraus", sagte Öger der
 Berliner Zeitung. Er habe Erdogans Rede vor allem als Aufruf an die
 türkischstämmigen Menschen in Deutschland verstanden, sich zu integrieren und
 zugleich ihre Kultur zu bewahren.
 Uneinigkeit über Konsequenzen für EU-Beitrittverhandlungen
 Führende Koalitionspolitiker hatten sich am Dienstag empört über die Warnung des
 türkischen Ministerpräsidenten Erdogan vor einer Angleichung der Türken in
 Deutschland gezeigt. Strittig zwischen Union und SPD war gestern aber, ob der
 Auftritt Erdogans in Köln Auswirkungen auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der
 Türkei haben soll. Grüne und Linke warfen der Union nationalistische Töne vor. Die
 Ermittlungen zum tödlichen Brand in Ludwigshafen gingen weiter.
 Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte dem Sender N24, Erdogans Auftritt
 in Köln zeige, "dass die Türkei und Erdogan noch immer
 Orientierungsschwierigkeiten in Europa haben". Er sprach außerdem von einer
 "Einmischung in die inneren Angelegenheiten" Deutschlands, weil sich Erdogan an
 Tausende Türken mit deutschem Pass gewandt habe.
 Deren Loyalität müsse aber Deutschland gelten, betonte der CDU-Politiker vor einer
 Sitzung der Unionsfraktion. Integration bedeute nicht Assimilation. Der türkische
 Ministerpräsident werde Deutschland nicht vom Weg der Integration abbringen. Er
 rate Erdogan dringend, in Deutschland keinen Wahlkampf für die Türkei zu machen:
 
 "Das ist nicht gut für die Integration".
 CSU-Chef Erwin Huber hatte gar die Fortführung der EU-Beitrittsverhandlungen
 infrage gestellt. Huber sagte dem Münchner Merkur: "Erdogan hat türkischen
 Nationalismus auf deutschem Boden gepredigt. Das ist antieuropäisch und belegt
 unsere Bedenken hinsichtlich eines EU-Beitritts der Türkei." Jetzt müsse man
 "überlegen und prüfen, ob unter diesen Umständen die Fortführung der
 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei überhaupt noch sinnvoll ist."
 SPD-Fraktionschef Peter Struck entgegnet in der Mittwochsausgabe der Stuttgarter
 Zeitung, die Beitrittsverhandlungen würden nicht beeinflusst. Europa müsse die
 Integration der Türkei wollen. Ähnlich äußerte sich im rbb auch der Vorsitzende der
 Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz. Aber auch Struck
 reagierte mit scharfen Worten auf Erdogans Äußerungen. "Wir wollen keine
 Parallelgesellschaften in Deutschland", mahnte er vor einer Fraktionssitzung.
 Erdogans Aussagen seien sehr unglücklich.
 
 Nach einer Emnid-Umfrage für N24 vom Montag sprachen sich 66 Prozent der
 Bürger gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei aus - nach 48 Prozent 2002.
 Türkischsprachige Gymnasien und Unis lehnten 83 Prozent ab, nur zehn Prozent
 waren dafür.
 (dpa/AP/ihe/bavo)
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