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Alt 19.02.2008, 00:05
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Standard "Wie ein Gastarbeiter aus Südostanatolie

SZ 13.2.2008

"Wie ein Gastarbeiter aus Südostanatolien"

Mischt sich der türkische Ministerpräsident Erdogan in "innere Angelegenheiten" ein
oder entlarvt der Protest gegen seine Äußerungen zur Integration vielmehr seine
Kritiker? Deutsche Politiker streiten weiter heftig.
Grünen-Chefin Claudia Roth hat der Union vorgeworfen, den jüngsten Deutschland-Besuch
des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu
Wahlkampfzwecken missbrauchen zu wollen. "Hier wird wieder unglaublich viel
Porzellan zerschlagen", so die Grünen-Vorsitzende heute in der Augsburger
Allgemeinen. Sie wirft Unionspolitikern "eine bewusste Missinterpretation" von
Erdogans Aussagen gegen eine Assimilation der in Deutschland lebenden Türken
vor.
"Erdogan hat klar gesagt: Integriert Euch, lernt Deutsch". Noch nie zuvor habe ein
türkischer Ministerpräsident so deutlich zur Integration aufgerufen. "Herr Erdogan
wird behandelt wie früher ein Gastarbeiter aus Südostanatolien", fügte Roth hinzu.
Auch der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen
Ausschusses im Bundestag, distanzierte sich von der Kritik am türkischen
Ministerpräsidenten. Dessen Regierung sei "die erste in der Türkei, die nicht nur
erkannt hat, dass die Türken, die dauerhaft in Deutschland leben, sich hier
integrieren müssen, sondern auch etwas dafür tut", sagte der frühere CDU-Generalsekretär
der Frankfurter Rundschau.
So sorge sie etwa für eine bessere Vorbereitung der muslimischen Imame, die in die
Bundesrepublik kämen. In seiner Kölner Rede habe Erdogan die Türken in
Deutschland aufgefordert, Deutsch zu lernen, sich zu bilden und so den
gesellschaftlichen Aufstieg hierzulande anzustreben. Polenz: "Wir sollten verstehen,
dass Heimatgefühl nichts exklusives ist. Man kann sich sehr wohl in seiner Heimat
Deutschland zu Hause fühlen, ohne das Land der Eltern oder Großeltern zu
vergessen."
FDP-Generalsekretär Dirk Niebel gab ebenfalls in der Frankfurter Rundschau zu
bedenken: "Die angemessenen Worte der Mäßigung zur Bewertung der Lage nach
der schmerzlichen Brandkatastrophe von Ludwigshafen stehen im krassen
Widerspruch zu der Kundgebung für eine Klein-Türkei in Deutschland." So wirkten
Erdogans Aufforderungen zur sprachlichen Integration eher wie ein
Lippenbekenntnis.
Erdogan hatte am Sonntag in Köln die in Deutschland lebenden Türken zur
Integration aufgefordert, zugleich aber vor völliger Aufgabe ihrer kulturellen Identität
(Assimilation) gewarnt. Zuvor hatte er türkischsprachige Bildungseinrichtungen
vorgeschlagen.
Der SPD-Europaparlamentarier und Unternehmer Vural Öger forderte, die
Äußerungen des türkischen Regierungschefs nicht überzubewerten: "Erdogan ist ein
emotionaler Mensch und schießt auch schon mal übers Ziel heraus", sagte Öger der
Berliner Zeitung. Er habe Erdogans Rede vor allem als Aufruf an die
türkischstämmigen Menschen in Deutschland verstanden, sich zu integrieren und
zugleich ihre Kultur zu bewahren.
Uneinigkeit über Konsequenzen für EU-Beitrittverhandlungen
Führende Koalitionspolitiker hatten sich am Dienstag empört über die Warnung des
türkischen Ministerpräsidenten Erdogan vor einer Angleichung der Türken in
Deutschland gezeigt. Strittig zwischen Union und SPD war gestern aber, ob der
Auftritt Erdogans in Köln Auswirkungen auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei haben soll. Grüne und Linke warfen der Union nationalistische Töne vor. Die
Ermittlungen zum tödlichen Brand in Ludwigshafen gingen weiter.
Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte dem Sender N24, Erdogans Auftritt
in Köln zeige, "dass die Türkei und Erdogan noch immer
Orientierungsschwierigkeiten in Europa haben". Er sprach außerdem von einer
"Einmischung in die inneren Angelegenheiten" Deutschlands, weil sich Erdogan an
Tausende Türken mit deutschem Pass gewandt habe.
Deren Loyalität müsse aber Deutschland gelten, betonte der CDU-Politiker vor einer
Sitzung der Unionsfraktion. Integration bedeute nicht Assimilation. Der türkische
Ministerpräsident werde Deutschland nicht vom Weg der Integration abbringen. Er
rate Erdogan dringend, in Deutschland keinen Wahlkampf für die Türkei zu machen:

"Das ist nicht gut für die Integration".
CSU-Chef Erwin Huber hatte gar die Fortführung der EU-Beitrittsverhandlungen
infrage gestellt. Huber sagte dem Münchner Merkur: "Erdogan hat türkischen
Nationalismus auf deutschem Boden gepredigt. Das ist antieuropäisch und belegt
unsere Bedenken hinsichtlich eines EU-Beitritts der Türkei." Jetzt müsse man
"überlegen und prüfen, ob unter diesen Umständen die Fortführung der
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei überhaupt noch sinnvoll ist."
SPD-Fraktionschef Peter Struck entgegnet in der Mittwochsausgabe der Stuttgarter
Zeitung, die Beitrittsverhandlungen würden nicht beeinflusst. Europa müsse die
Integration der Türkei wollen. Ähnlich äußerte sich im rbb auch der Vorsitzende der
Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz. Aber auch Struck
reagierte mit scharfen Worten auf Erdogans Äußerungen. "Wir wollen keine
Parallelgesellschaften in Deutschland", mahnte er vor einer Fraktionssitzung.
Erdogans Aussagen seien sehr unglücklich.

Nach einer Emnid-Umfrage für N24 vom Montag sprachen sich 66 Prozent der
Bürger gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei aus - nach 48 Prozent 2002.
Türkischsprachige Gymnasien und Unis lehnten 83 Prozent ab, nur zehn Prozent
waren dafür.
(dpa/AP/ihe/bavo)