Regt euch nicht auf-Erdogan hat Recht!
DIE WELT 13.2.2008
Regt euch nicht auf – Erdogan hat Recht!
Von Alan Posener
Integration
Angenommen, es gäbe eine deutsche Minderheit in der Türkei – es wäre
selbstverständlich, wenn deutsche Politiker zur Pflege der kulturellen Tradition
aufrufen würden. Doch der Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, in
Deutschland türkische Schulen einzurichten, hat für Empörung gesorgt. Warum
eigentlich?
Ein berühmter jüdischer Witz geht so: „Kommt ein Mann zum Rabbi. Rebbe, sagt er,
ich möchte mich scheiden lassen." Jüdische Witze sind in Deutschland so beliebt wie
Klezmer-Musik. Vielleicht weil man auf diese Weise zeigen kann, dass man nicht
Antisemit ist, ohne sich zu etwas zu verpflichten.
Zum Beispiel zum Nachdenken darüber, was ein solcher Witz über die jüdische
Parallelgesellschaft im Shtetl und im Ghetto sagt: Nämlich dass dort in Hochzeits-
und Scheidungsdingen das jüdische religiöse Gesetz galt. Und darüber, wie lange es
überhaupt eine jüdische Kultur in Europa gegeben hätte, wenn sich die Juden so
assimiliert hätten, wie sie es heute von den muslimischen Zuwanderern gefordert
wird. Und darüber, was den deutschen Juden ihre Assimilation genutzt hat.
Dieser Tage ist in England der anglikanische Erzbischof von Canterbury Rowan
Williams unter Beschuss geraten, weil er laut darüber nachdachte, Imamen eine
ähnliche Autorität in den muslimischen Gemeinden einzuräumen wie früher den
Rabbinern in den jüdischen. Und in Deutschland empört man sich über den
türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, weil er seinen hier lebenden
Landsleuten gesagt hat, Integration sei notwendig, Assimilation aber ein Verbrechen;
und weil er über türkische Schulen in Deutschland nachgedacht hat.
Gäbe es eine große deutsche Minderheit in der Türkei, würde man es allerdings für
das Selbstverständlichste der Welt halten, wenn deutsche Politiker beim
Staatsbesuch die Landsleute zur Pflege ihrer kulturellen Traditionen ermutigen
würden. So hielt es Charles de Gaulle bei seinem Besuch bei der
französischsprachigen Minderheit in Quebec.
Und was türkische Schule betrifft: In Schlesien etwa, wo es immer noch eine – wenn
auch arg dezimierte – deutsche Minderheit gibt, werden selbstverständlich auch
deutsche Schulen von der Bundesrepublik Deutschland gefördert. Kein deutscher
Politiker hat die Russland- oder Siebenbürgen-Deutschen zur Assimilation, also zur
Aufgabe ihres Deutschtums und zur Kappung ihrer Bindungen zu Deutschland
aufgefordert.
Und was den Vorschlag des Erzbischofs betrifft: In einem muslimischen Land wie
Ägypten, wo es eine bedeutende christliche Minderheit gibt, gelten für die
verschiedenen Religionsgemeinschaften verschiedene Regelungen in Sachen
Eherecht; in Israel, wo es nicht einmal ein ziviles Eherecht gibt, ist es ähnlich.
Übrigens fordert dort niemand die arabischen Bürger des Landes auf, sich zu
assimilieren.
Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: In keinem Staat der Erde haben die
Staatsbürger das Recht, die Gesetze zu missachten. Daran denken auch weder
Williams noch Erdogan. Aber kein Staat der Erde hat das Recht, von seinen Bürgern
die Aufgabe ihrer kulturellen und religiösen Identität zu verlangen. Dass Minderheiten
auf ihre Eigenheiten bestehen, einschließlich der engen Verbindung zur Heimat, ja
auch des Nationalstolzes, ist ihr Menschenrecht.
Dieses Recht wurde mit Füßen getreten, als die deutschen Minderheiten nach dem
zweiten Weltkrieg im Namen der ethnischen und kulturellen Homogenisierung aus
Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und anderen Teilen Osteuropas vertrieben
wurden; dieses Menschenrecht wurde mit Füßen getreten, als die italienische
Regierung im Namen der nationalen Einheit eine brutale Italienisierungspolitik in
Südtirol durchführte; es würde mit Füßen getreten, wenn man von den hier lebenden
Türken nicht nur Integration, sondern auch Assimilation fordern würde. Da hat
Erdogan Recht.
Deutschland hat immer noch Schwierigkeiten damit, ein Einwanderungsland zu sein.
Ein Einwanderungsland ist nämlich bis zu einem bestimmten Grad auch immer ein
multikulturelles Land. Ein Blick in die jiddischen Teile Brooklyns, in die kubanischen
Viertel Miamis, in die Chinatowns diverser Großstädte, bestätigt diesen Befund. Mit
dem gesellschaftlichen Aufstieg lockert sich für gewöhnlich der ethnisch-kulturelle
Zusammenhalt. Wer also Integration will, muss für Aufstieg sorgen; und sich vorher
mit dem Faktum des Multikulturalismus anfreunden.
Multikulti ist zum Schimpfwort geworden
Multikulti, einst eine beliebte Losung, ist selbst unter Linksliberalen zu einem
Schimpfwort geworden. Das ist schade. Denn Multikulturalismus heißt doch nicht,
dass man Ehrenmorde oder andere Formen des Dunkelmännertums gutheißt.
Multikulturalismus heißt, dass man die Sitten von Berlin-Kreuzberg nicht einem
bayrischen Bergdorf aufzwingt. Und umgekehrt. Multikulturalismus schließt auch das
Recht ein, sich zu keiner Religion oder sonst gearteten Gemeinde zu bekennen –
das Recht der Bauerntochter aus Bayern, das katholische Milieu zu verlassen, und
der Bauerntochter aus Anatolien, das muslimische Milieu zu verlassen.
Der Staat hat auch dieses Recht – ja gerade dieses Recht - zu garantieren. Jeder
moderne Staatsbürger ist selbst multikulturell, definiert sich über die Zugehörigkeit zu
verschiedenen Gruppen. Darüber wird die Frage der Integration gelöst – dadurch,
dass türkische Zuwanderer eben nicht nur zur türkischen Gemeinde gehören,
sondern über ihre Einbindung in Schulen, Betriebe, Vereine, Parteien auch an der
Zivilgesellschaft partizipieren.
Ob türkische Schulen dabei eher behilflich oder eher hinderlich sein würden, sollte
man im Praxistest prüfen. Statt auf Erdogans Vorschlag mit gereizter Ablehnung zu
reagieren, sollte man den türkischen Premier einladen, zwei oder zwanzig
Modellschulen zu finanzieren. Deutschlands Türken werden dann mit den Füßen
abstimmen; und die Erfahrung lehrt, dass Einwanderer die Schulen wählen werden,
die ihren Kindern die besten Aufstiegschancen bieten. Haben die staatlichen Schulen
Angst vor diesem Wettbewerb?
Türkische Schulen? Lasst die Praxis entscheiden!
P.S. Wie geht der jüdische Witz weiter? „Der Mann erzählt dem Rabbi, wie schlimm
seine Frau ihn behandle. Mein Sohn, du hast Recht, sagt der Rabbi. Du darfst dich
scheiden lassen. Kurz darauf kommt die Frau zum Rabbi und beschwert sich: Ihr
Mann habe Lügen über sie erzählt. Dabei wolle er sie bloß loswerden, um eine
Jüngere zu heiraten. Meine Tochter, du hast Recht, sagt der Rabbi. Die Scheidung
kommt nicht in Frage. Da sagt der Schüler des Rabbi, der die ganze Zeit daneben
gestanden hat: Aber Rebbe, zwei Parteien können doch nicht gleichzeitig Recht
haben? Auch du hast Recht, sagt der Rabbi."
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