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  #1584  
Alt 17.01.2007, 08:32
unknown
 
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Standard andere Seite des Medaillons

Du kritisierst nur eine Seite des Medaillons. Die andere Seite des Medaillons ist, dass die Politik selbst als Machtinstrument gegen seine Bürger, Politiker, Journalisten usw. Gedanken- und MeinungsGrenzen aufsetzt. Ein tolles Beispiel dafür ist Artikel 301 *Verunglimpfung des Türkentums* des neuen Strafgesetztbuches, das übrigens von der AKP-Regierung entworfen wurde. In diesem Zusammenhang werden weitgehend politische Diskussionen über Kurden, Armenier oder sonstwas verhindert. Dieses Gesetz belegt, dass Demokratie-Diskussionen nicht auf ideologischer Ebene geführt werden können!! Vielleicht wird dir das auch nicht gefallen, aber erst mit den Reformen des Atatürks wurde der Demokratisierungsprozess der Türkei in Gang gesetzt. Wenn Tayyip Erdogan bei seiner eigenen Partei die Demokratisierung vorantreiben würde, in dem er seine Führungs-(bzw. Führer)-Hegemonie abschaffen würde, die Immunität der Abgeordneten nur auf die Meinungsfreiheit beschränken würde, die Justiz von der Politik(Stichwort: Dursun Uyar) weitgehend lösen würde, nicht jeden hohen Regierungsbeamten durch seine eigene Leute austauschen würde, Artikel 301 auch ohne Druck der EU ändern würde, die Pressefreiheit erweitern würde und noch einiges mehr tun würde, dann würde ich ihn für diese Demokratisierungsschritte gratrulieren.

Artikel 301 enthält folgende Punkte:
1. Die öffentliche Verunglimpfung des Türkentums, der Republik oder der Großen Türkischen Nationalversammlung wird mit Haft zwischen drei und sechs Monaten bestraft.
2. Die öffentliche Verunglimpfung der Regierung der Republik Türkei, der juristischen Institutionen des Staates, des Militärs oder der Sicherheitskräfte wird mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft.
3. Wenn die Verunglimpfung des Türkentums durch einen türkischen Staatsbürger im Ausland begangen wurde, wird die Strafe um ein Drittel erhöht.
4. Meinungsäußerungen, die lediglich Kritik darstellen, sind nicht als Straftat zu werten.

Die Empfehlung 1589 (2003) 1 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats drängt Staaten unter anderem, „Gesetze aufzuheben, welche die journalistische Redefreiheit strafrechtlicher Verfolgung unterwirft; *sofort alle Formen rechtlicher und wirtschaftlicher Drangsalierung unliebsamer Medien zu beenden* und *die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zur Redefreiheit in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen und die Richter entsprechend weiterzubilden*.

Das wir andere Ansichten und Meinungen vertreten, steht außer Frage. Du versuchst die anti-demokratischen Elemente oder Gewohnheiten der Türkei ausschließlich auf den Kemalismus zu reduzieren. Paradoxer gibt es kein anderes islamisches Land, außer der Türkei, dass auch nur annäherd die Gestalt einer modernen Demokratie annimmt. Also, schon aus diesem Grund kann der Kemalismus gar nicht so schlecht sein, aber auch die Tatsache, dass die Türkei durch seine halbwegs-Demokratie grundlegend sich von seinen arabischen Anti-Demokratischen-Nachbarländern unterscheidet, würde deine Meinung über den Kemalismus wahrscheinlich nicht ändern.

Ich versuche hier nicht die politischen Interventionen des Militärs zu verteidigen, sondern vor der Politisierung des Islams zu warnen. Und viele in Deutschland lebenden Türken haben doch selbst miterlebt, wie sie in den Moscheen um ihre langjährigen Ersparnisse durch sogenannte islamische Holdings(Jetpa, Kamer, Yimpas usw.) betrogen wurden. Die Religisiötät der Menschen kann sehr leicht missbraucht werden. In diesem Zusammenhang stimme ich den Worten des Atatürks zu:

*Din bir vicdan sorunudur. Herkes vicdanýnýn emrine uymakta serbesttir. Biz dine saygý gösteririz. Düþünüþe ve düþünceye karsý deðiliz. Biz sadece, din iþlerini devlet ve ulus iþleriyle karýþtýrmamaya çalýþýyoruz.*

*Din ve mezhep, herkesin vicdanýna kalmýþ bir iþtir. Hiç kimse, hiç bir kimseyi ne bir din, ne de bir mezhep kabulüne zorlayabilir. Din ve mezhep, hiç bir zaman, siyaset aracý olarak kullanýlamaz.*

Nun ja, du erwähnst den Progrom in Sivas gegen alevitische Menschen. Sicherlich ist dir auch bekannt, dass zwischen 10000 bis 20000 religiöse Fundamentalisten 37 Menschen verbrannt haben und 124 Fundamentalisten dann vor Gericht u.a. von Sevket Kazan verteidigt wurden. Sagt dir der Name Sevket Kazan (RP) was? Dieser Mann konnte sich kurz später sogar zum Justizminister avancieren. In einem anderen Zusammenhang hat Prof.Dr. Izzettin Dogan (CemVakfi Genel Baskani) sich öffentlich darüber beschwert, dass es bisher keiner alevitischen Organisation gelungen ist, ein Termin mit den AKP-Regierungsmitgliedern zu vereinbaren. Mal abgesehen davon, war es Recep Tayyip Erdogan, der ein Gebetshaus der Aleviten in seiner Zeit als Bürgermeister in Istanbul abreisen wollte.


Ich vertrete immer noch die These, dass die Demokratie-Probleme der Türkei nicht nur auf das Militär und Kemalismus reduziert werden kann. Die soziokulturellen und –ökonischen Defizite der Türkei beeinflussen das Demokratie-Verhalten und –Verständnis der Menschen weit mehr. Wenn z.B. in einem Land 70%-80% der Journalisten unter Armuts- und Hungersgrenze leben, dann wird es verdammt schwer werden unter solchen Bedingungen eine moderne Demokratie aufzubauen bzw. zu erhalten. Selbst in modernen Demokratien wie in Deutschland glauben ca. 60% Bundesbürger nach einer Umfrage nicht mehr an die Demokratie. Nicht das Militär und auch nicht die Kemalisten sind dafür verantwortlich *lach*, es ist schlicht einfach der Grund, dass sich Menschen unter den wachsenden Problemen nicht mehr helfen wissen.