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Alt 27.04.2005, 11:25
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akshalil akshalil ist offline
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Standard Türkische Paranoia

Je näher das Land an Europa heranrückt, desto stärker wird sein Nationalismus

letzten Jahren hat sich die Türkei intensiv um einen Beitritt in die Europäische Union bemüht und schließlich auch einen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen erhalten. Doch diese Verabredung Europas mit der Türkei ist heute ernsthaft bedroht. Denn in der Türkei ist mit der konkreter werdenden Europaperspektive nicht der erwartete und von vielen Menschen auch lang ersehnte Frühling der Demokratie und Freiheit ausgebrochen, sondern ein Wiedererstarken des Nationalismus.


Das Gespenst der Unterdrückung von Meinungsfreiheit, die Gesichtszüge eines totalitären Staates, deren Organe mit demagogischer Finesse in der Bevölkerung Angst schüren und Sehnsüchte manipulieren und so für eine gefährliche und explosive Stimmungslage sorgen, zeichnen das Bild einer in höchstem Maße verunsicherten Gesellschaft. Wer die Türkei heute von außen betrachtet, kann ohne weiteres den Eindruck gewinnen, das Land bemühe sich um eine Integration mit China statt mit Europa.


Panik, so scheint es, hat jene Kräfte erfaßt, die um den Verlust ihrer Macht fürchten, an vorderster Stelle sind hier die Militärs und der nationalistisch gesinnte bürokratische Apparat zu nennen. Es sind genau jene Kräfte, die durch ihre starrsinnige Haltung in Fragen der Demokratisierung und Liberalisierung des Landes die Entwicklung der Türkei in den neunziger Jahren gehemmt und das Land in eine tiefe wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise gestürzt haben. Daß die Mitgliedschaft in der EU sich nicht mit den nationalen Interessen der Türkei decken kann ist ihr Credo. Vielmehr verfolge die EU einen Geheimplan zur Aufteilung und Schwächung der Türkei. Konspirationstheorien haben Konjunktur.


Totalitäre Systeme brauchen immer Konspirationstheorien. Das ist nicht neu. Die türkische Variante aber ist nichts anderes als die Forstsetzung eines Traumas aus den letzten Tagen des Osmanischen Reiches. Damals ging es tatsächlich um die Aufteilung des Osmanischen Erbes unter den Kolonialmächten. Heute aber geht es um nichts anderes als um die Auflösung des klassischen Nationalstaats. Durch die Mitgliedschaft in der EU wird die Türkei, wie jedes andere Mitglied, Teil eines Überbaus - ein Alptraum für rechte Nationalisten, für die Anhänger des Neutralismus, die übriggebliebene Schar linker Ideologen. Sie finden sich nun zusammen in einem letzten Gefecht, das die Zukunft der Türkei im Zeitalter der Globalisierung noch sehr trüben kann.


Aber auch für Europa verheißt diese Entwicklung nichts Gutes. Für die Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft besteht kein Grund zur Schadenfreude. Denn was dabei herauskommt, ist kein strategischer oder gar privilegierter Partner Europas, sondern bestenfalls Rußlands und in langer Perspektive vielleicht ein Geselle Chinas. Die Nationalisten in der Türkei versuchen heute die Weichen für morgen zu stellen. Sie schüren nicht nur eine antieuropäische Stimmung, sondern auch den Antiamerikanismus und den Antisemitismus, und das mit einigem Erfolg.


Die überwältigende Mehrheit der Türken glaubt heute laut Umfragen, daß die USA eine Bedrohung für die Türkei darstellen. Der Krieg im Irak wird eindeutig negativ bewertet. Hitlers "Mein Kampf" ist inzwischen ein Bestseller. Ein Roman, in dem ein zukünftiger Krieg zwischen den USA und der Türkei thematisiert wird, gehört ebenfalls zu den derzeit am meisten gelesenen Werken. Die Stimmung richtet sich gegen den Westen schlechthin, ohne Differenzierungen, gelenkt von einer Ideologie des Hasses, von historisch tiefsitzenden Ängsten, die längst paranoide Züge angenommen haben.