Die Türkei siehst sich als Opfer
Istanbul - Wer dem türkischen Außenminister Abdullah Gül lange genug zuhört, dem beginnt die Türkei leid zu tun. Eine kleine Gruppe geistig verwirrter Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind, bringt das unschuldige Land mit bösartigen Lügen in derartige politische Bedrängnis, daß am Ende noch der ersehnte EU-Beitritt darunter leiden könnte.
Die Irren, von denen die Rede ist, sind "gewisse Teile der armenischen Diaspora", sagt Gül, "die an Schuldkomplexen und Identitätsproblemen leiden". Sie, die große Worte schwingen, um Gerechtigkeit für ihr Volk zu fordern, weigern sich selbst, irgend etwas für ihr Volk zu tun: "Ihren ganzen Reichtum, den sie im Westen erworben hatten, müßten sie nach Armenien bringen. Sie müßten selbst in die Heimat zurückkehren, wie die Juden das mit Israel machen", giftet Gül. Aber nein, die Exil-Armenier sind zu geizig und bequem. Statt dessen verbreiten sie Lügen über einen Völkermord, der, so Gül, nie stattgefunden hat.
Am Sonntag gedenken die Armenier des großen Sterbens, das vor 90 Jahren begann. Sie selbst und weite Teile der Weltöffentlichkeit nennen es den ersten Völkermord der modernen Geschichte. Gül und die türkische Regierung nennen es, wie alle türkischen Regierungen seit den Greueltaten, neutral und ohne Schuldgefühle eine "Tragödie".
Insbesondere Gül hat jedoch erkannt, daß die Genozidfrage allmählich zu einem ernsten diplomatischen Problem wird. Europäische Länder und Politiker, die einen EU-Beitritt der Türkei verhindern wollen, fordern als Vorbedingung ein Schuldeingeständnis, das politischen Selbstmord für jede türkische Regierung bedeuten würde. Die Armenier nutzen ihrerseits die Gunst der Stunde und drängen die Parlamente der Staaten immer erfolgreicher dazu, die Massaker von 1915 bis 1923 offiziell als "Völkermord" anzuerkennen.
Die Türkei hat bislang nie mehr als defensive Allgemeinheiten zu der Debatte beigetragen. Es herrschte Krieg, die Armenier machten mit dem Feind gemeinsame Sache, daher war die Regierung gezwungen, sie zu deportieren, lautet die Argumentation. Der Rest sei eine Folge unglücklicher Umstände gewesen - mörderische Angriffe der Lokalbevölkerung gegen die Deportierten, mangelnde Hygiene und versagende Bürokraten, die aber oft für ihre Haltung vor Gericht zur Verantwortung gezogen, teilweise sogar hingerichtet worden seien.
Daß das nicht genügt, hat Gül erkannt. Er steht an der Spitze einer neuen türkischen Kampagne, die die Weltöffentlichkeit mit Fakten und Argumenten überzeugen will, daß zwar viel Blut vergossen wurde, aber kein Völkermord stattgefunden hat. Zentrale Stoßrichtung dieser Strategie ist die Forderung, "alle Archive zu öffnen". Dann werde man sehen, wer recht hat.
Es ist ein geschickter Schachzug. Die Türkei hat wirklich ihre Archive geöffnet, "sogar die Militärarchive", sagt Gül. "Wir sind dabei vollkommen ehrlich. Wenn wir etwas verstecken oder zerstören würden und erst dann die Historiker an die Dokumente lassen, dann würden die Experten das sofort merken. Wir sind also völlig offen in dieser Sache." Er fordert nun auch "Frankreich, Deutschland und Armenien" auf, ihre Archive vorbehaltlos zu öffnen und von Historikern auswerten zu lassen. Das richtet sich vor allem gegen Armenien, das bislang offenbar keinen freien Zugang zu seinen Archiven gewährt. Das zeigt die Türkei in gutem Licht, und Armenien sieht so aus, als habe es etwas zu verbergen. Gül droht nun gar, "wir werden versuchen, die Öffnung der Archive zu erzwingen".
Die türkischen Staatsarchive haben es ihrerseits mit der "Wahrheit" so eilig, daß sie gar nicht erst auf die Historiker warten. Kürzlich wurde aus Archivquellen eine Liste von Massakern an türkischen Zivilisten durch armenische Gruppen zusammengetragen. Laut türkischen Medienberichten ergibt sich daraus die atemberaubende Opferzahl von mehr als einer halben Million türkischer Zivilisten. Nach herkömmlicher türkischer Auffassung starben "nur" etwa 300 000 Armenier in jenen Jahren. Ein Genozid nicht also an Armeniern, sondern an Türken?
Man muß schon genau hinsehen, um die entscheidende Schwachstelle der türkischen Taktik zu erkennen. Die Staatsarchive enthalten wahrscheinlich wirklich keinen Hinweis darauf, daß die Vernichtung eines großen Teiles der armenischen Bevölkerung Staatspolitik war, weil die Staatsorgane nicht mit der Umsetzung des Völkermordes betraut waren. Neutrale, der Türkei wohlgesinnte Historiker wie Erik J. Zürcher (Turkey - a Modern History, 1993, jüngste Ausgabe 2001) weisen darauf hin, daß die Opferzahlen wohl irgendwo zwischen den Angaben beider Lager liegen, vermutlich bei 600 000 bis 800 000 Menschenleben, und daß weder der formale Verwaltungsapparat noch das Militär Order hatten, die Armenier als Volk zu liquidieren.
Ein "innerer Kreis" der damals regierenden Jungtürken unter Leitung von Innenminister Talaat Pascha habe jedoch vermutlich sehr wohl beabsichtigt, die Armenier unter dem Deckmantel der Deportationen auszurotten. Mit der Umsetzung seien jedoch weder Staat noch Militär, sondern die ideologisch verläßlicheren internen Parteistrukturen betraut worden, vor allem die sogenannte Spezialorganisation, ein Zusammenschluß jungtürkischer Offiziere, die in vielen Konflikten im In- und Ausland bereits als Untergrundorganisation gewirkt hatten. Und hier kommt der springende Punkt: Die Archive dieser Organisation sind zerstört, und jene der Jungtürken (das Komitee für Einheit und Fortschritt) gelten als verloren.
Die Öffnung der türkischen Staatsarchive sieht mithin sehr gut aus, ist aber vermutlich irrelevant. Wenn es je türkische Dokumente gab, die einen Genozid belegen, dann waren sie nie dort.
|