Thema: Philosophie
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Alt 26.08.2004, 11:57
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kerio kerio ist offline
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Standard Leopold Ziegler zum Tode von René Guénon

da es äußerst schwierig ist guenon zu verstehen ist, hier ein beitrag von jmd, der ihn weitaus besser verstanden hat als ich es wohl je werde.

Mit René Guénon, dem im Dezember 1950 allzufrüh Verstorbenen, sind wir um einen jener seltenen Männer ärmer geworden, die das Richtmaß für die Größe ihres Werkes in diesem selber aufstellen und bestimmen. Als der Begründer der Lehre von der integralen Tradition, das ist auf deutsch, der ?heilen Überlieferung?, bietet Guénon gegen den Geschehensablauf sinkenden Knotens, der unser Geschlecht unwiderstehlich mit sich reißt, die einzige Gegenkraft auf, die noch Rettung verheißen könnte. Alle die vielen Einzelangebote an gesellschaftlich-wirtschaftlichen Weltveränderungen verschmähend, die fast ausnahmslos nur die Serie der Revolutionen zum Ausgang des Mittelalters fortsetzen, geht Guénon viel- mehr von vornherein und unmittelbar aufs Ganze, indem er uns die Rückbesinnung auf das gemeinschaftliche Stammeserbe zur unabdingbaren Pflicht macht ? eben auf die heile Überlieferung also, die wir auch das den Menschen zum Menschen bestimmende ?Urwissen? nennen könnten, oder die zwar verlorene, nicht aber endgültig zugeschüttete Uroffenbarung. Wiewohl nämlich bereits diese Aufforderung zur Rückbesinnung auf die heile Überlieferung unstreitig das Eingeständnis ihres Verlustes voraussetzt, schließt sie anderseits doch zumindest auch die Möglichkeit ihrer Wiederholung, ?Wieder-Holung?, in sich. Wie solches aber bewirken? Daß hier die forschenden Verfahrensweisen des verwissenschaftlichten, bei uns, im Abendland, seit den Griechen verwissenschaftlichten Geistes mit Notwendigkeit versagen müssen, versteht sich für Guénon ebenso von selbst wie für uns. Der Rückgriff auf vor- und außerwissenschaftliche Erkenntnisarten wird unvermeidlich, und wiederum gibt es Guénon seine unverwechselbare Stelle, welchen Mittels er sich zu seinem großen Zweck bedient, die ?Krisis der neuzeitlichen Welt? zu überwinden (wenn es hierfür nicht zu spät sein sollte). Das Mittel ist ein Doppeltes. Einmal begibt er, Guénon, sich an einen Ort, wo sich die heile Überlieferung in beträchtlichen Teilen noch mündlich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt in mehr oder weniger geheimen Gesellschaften, Orden, Bruderschaften des Orients also. Unter diesem Gesichtswinkel will sein Übertritt zum Islam gewertet sein und sein Eintritt in einen ägyptischen Orden der Sufis. Hier findet er dann die Gelegenheit und nützt sie auf vorbildliche Weise, um in die zwei gewaltigen Bereiche der arabisch-mohammedanischen und indisch-brahmanischen Gesamtüberlieferung gleichermaßen hineinzuwachsen und sich damit zu einem der fortab unentbehrlichsten Mittler zwischen Ost und West selbst zu erziehen. Solches ist indes im wesentlichen bloß die äußere Erscheinungsweise eines inneren Werdegangs, der den Adepten von Stufe zu Stufe meditativ und kontemplativ in die heile Überlieferung einweiht. Sich auf diese Weise initiatorisch und ?operativ? Sein und Nichtsein zumal in Sicht bringend, fällt ihm das Erkennen wieder zusammen mit der Verwirklichung, wie ihm jetzt auch Metaphysik, Ontologie und Theologie ?im Grunde? wieder in eins gerinnen. Der Zukunft muß die endgültige Würdigung dieses Einbruchs einer vor-, außer- und überwissenschaftlichen Erkenntnisweise in die ratlose Gegenwart zusammenhangloser Fach- und Einzelwissenschaften vorbehalten bleiben. Der Zukunft aber auch der abschließende Vergleich mit ähnlichen zeitgenössischen Rückgriffen auf ein Wissen, dem Erkenntnis wesensgemäß mit Verwirklichung zusammenfällt. In diesem Bezug möchte ich hier nur jenes anderen Rückgriffes auf vor- und überwissenschaftliches Erkennen flüchtig Erwähnung tun, den etwa der Heidegger der letzten Jahre im Wiederanschluß an die vorplatonische Philosophie tätigt ? man darf wohl sagen, von der Sprache her tätigt und ihrem das Sein unmittelbar aussprechenden Offenbarungsvollzuge. Auch die zeitgeschichtlich ganz unvermeidlichen Berührungen Guénons mit der Anthroposophie werden inskünftig einer ebenso sorgfältigen Überprüfung bedürfen wie die an gleicher Stelle erfolgenden Abstoßungen in der Auffassung, was echte und was gefälschte Überlieferung sei. Für diejenigen endlich, welche, am Christentum festhaltend, ein Oberhalb aller geschichtlichen Glaubens- und Kirchenspaltungen suchen ? für sie gilt es, das richtige Verhältnis zwischen der integralen Tradition hier und der eigentlich christlichen, meint also der evangelisch-katholisch-orthodoxen Überlieferung dort zu ermitteln.

Als ich im Jahre 1934 (Deutsche Rundschau, 60. Jahrgang, Septemberheft) dem deutschen Leser René Guénon erstmalig vorstellen durfte, wagte ich, von ihm als dem berufenen Vertreter eines ?heimlichen Frankreich? zu reden. Der Gewagtheit dieser Redeweise war ich mir bewußt. Denn während es zumindest seit unserer Romantik ein heimliches Deutschland immer gab, erscheint die Tatsache eines heimlichen Frankreich von vornherein unvereinbar mit der so viel älteren und stärkeren Tatsache, daß gerade Frankreich, auch hierin glücklicher veranlagt als wir, dem Schriftsteller eine Öffentlichkeit als selbstverständlich zugesteht, von der wir Deutschen kaum etwas ahnen. Noch für das Frankreich der Valéry, Gide, Claudel gilt dies unbedingt. Sollte Guénon auch in diesem Betracht ein Neues heraufbringen, das zugleich ein Ältestes wäre? Inzwischen deutet manches darauf hin, daß jenem heimlichen Frankreich Guénons ein heimliches Österreich, ein heimliches Italien und abermals ein heimliches Deutschland entspräche und sie einander insgesamt in der Stille entgegenreifen. So macht die Wiener Schule des René Guénon im Tod vorausgegangenen Othmar Spann neuerdings eine Gruppe der sogenannten Traditionalisten (Guénon, Evola, Ziegler) namhaft und bringt sie in engste Nachbarschaft zu der in Österreich führend gewordenen Ganzheitslehre. Gesetzt, man sei zur Unterscheidung und Hervorhebung einer solchen Gruppe befugt, dann könnte hier vielleicht ein letzter schwacher Hoffnungsschimmer für das mit dem Tode ringende Abendland aufglimmen. Allzu lange hat Europa aus der stygischen Lethe Vergessenheit getrunken und darum mehr und mehr vergessen, was nie hätte vergessen werden dürfen. Nun wird Anamnesis gegen Lethe aufgeboten, falls es nicht bereits zu spät ist. In vorderster Reihe dieses Aufgebotes streitet René Guénon. Vor seinen Manen senken wir heute in Ehrerbietung die gemeinsame Fahne.



Leopold Ziegler