Die türkische Kultur hat einen Hang zur
Mit dieser Feststellung kann so mancher Türke sich zunächst häftig irritiert fühlen. Wird damit etwa unterstellt, daß türkische Männer weniger Potenzen besitzen könnten als ihre Geschlechtsgenossen in anderen Erdteilen? Keine Spur! Es ist damit ebensowenig unterstellt, daß türkische Männer weniger soziale Privilegien genießen als Frauen. Mit dem Hang zur Femininität ist lediglich gemeint, daß Eigenschaften, die gemeinhin mit Weiblichkeit assoziiert werden, wie z.B. Nähe, Sensibilität, Nachsichtigkeit u.s.w., in der türkischen Kultur verbreitet sind, u.z. vollkommen gleichgültig, ob es sich bei den Repräsentanten dieser Kultur um Frauen oder Männer handelt.
Maskulinität versus Femininität ist eines von vier Kulturprofilen, die von Geert Hofstede entwickelt wurden. Zugegeben, an diesen Bezeichnung haftet der unangenehme Beigeschmack von gängigen Stereotypen über Männer und Frauen an. Aber es lohnt sich trotzdem, über diese Kritik hinwegzusehen, weil man mit diesen Profilen durchaus einige recht interessante Kulturerkundungen anstellen kann.
Die Station unserer heutigen Kulturerkundung ist das in der türkischen Kultur in der Tat weit verankerte Bedürfnis zur Herstellung und Offenbarung von Nähe. Man könnte das auch mit Beziehungsorientierung umschreiben. Das ist aber bitte nicht mit Sexualität zu verwechseln. Obwohl man in westlichen Landesteilen immer mehr Paare, vor allem junge Liebespaare sehen kann, die sich umarmen oder gelegentlich küssen, ist das Thema Sexualität in der türkischen Öffentlichkeit immer noch mit einigem Tabu besetzt.
Die Nähe bzw. Beziehungsorientierung, wovon hier die Rede ist, ist zwar durchaus mit Körperkontakt verbunden, aber die Geisteshaltung dahinter könnte man vielleicht eher als platonischer Art bezeichnen. Auch wenn sich dem damit wenig vertrauten Auge zunächst vollkommen andere Assoziationen anbieten mögen, geht es doch bei den Nähe bzw. Beziehungsorientierung ausdrückenden Ritualen schließlich auch um Küsse und Umarmungen. Wenn zum Beispiel vor allem Repräsentanten von sogenannten maskulinen Kulturen in der Türkei beobachten, daß nicht nur Frauen, sondern auch Männer sich mitten auf der Straße gegenseitig rechts und links auf die Wangen küssen und anschließend gar Arm in Arm laufen, kommen sie oft nicht umhin als zu denken, ob die Türken vielleicht durch die Bank schwul sind. Es ist allerdings interessant, daß es vielmehr der Anblick von sich küssenden und umarmenden Männern ist und weniger von Frauen, die Gedanken mit homosexueller Assoziation mobilisieren. Übrigens ist dieses Ritual mit Küssen auf die Wange, wenn Bekannte sich treffen und begegnen auch in der arabischen Welt verbreitet. Der kleine Unterschied in der Ausübung besteht darin, daß man es in der Türkei meistens bei einem Wangenkuß beläßt. Hingegen findet in vielen arabischen Kulturen eine mehrfache Wiederholung statt.
Eine weitere Artikulationsform von Nähe ist eine obligatorische Art von"small talk". Gespräche werden selten damit begonnen, daß man sogleich mit dem eigentlichen Thema anfängt. Zuerst macht man "small talk". "Nasýlsýn?" bzw. Nasýlsýnýz?" heißt "Wie geht es Dir?" bzw. "Wie geht es Ihnen?"und ist eine der Muß-Fragen zu Beginn eines jeden Gesprächs, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob man sich für das Wohlbefinden der anderen Person tatsächlich interessiert oder nicht. Es ist halt ein Ritual, das über Traditionen aus der kulturellen Neigung zur Nähe hervorgegangen ist. Und je nachdem, wie manifest oder latent traditionsgebunden die Gesprächspartner sind, können sich an die Frage nach dem Wohlbefinden des Gegenübers auch weitere Fragen anschließen, wie etwa zum Wohlbefinden der Familie und anderen Verwandten bzw.zu sonstigen Belangen oder Belanglosigkeiten des Alltags.
Die Herstellung von Nähe zu Beginn von Gesprächen ist auch in der türkischen Geschäftswelt verbreitet. Obgleich türkische Geschäftsleute unter ebensoviel Leistungs- und Zeitdruck stehen wie andere Geschäftsleute, die Zeit für ein small talk wird aber trotzdem genommen. Andernfalls käme man sich sehr unhöflich vor, weil solange Unkenntnis über die kulturelle Ausprägung herrscht, dieses Ritual erst einmal eher als Ausdruck von Höflichkeit und Warmherzigkeit ausgelegt wird. Nun stelle man sich aber in dieser Situation einen Geschäftspartner vor, der Vertreter maskuliner Kulturen ist, wie z.B. Deutsche oder gar Amerikaner, der noch dazu vom Wert "Zeit ist Geld" geprägt worden sind. Wenn er vorher keine interkulturelle Einführung erfahren hat, sitzt er angsichts der auf ihn als Zeitvergeudung wirkenden Gesprächseinführungen seines türkischen Partners oft buchstäblich auf Kohlen und fragt sich, wann man nun endlich zum Kern der Sache kommen wird. Vielfach besteht die Neigung, das Ganze auch als Ausdruck von Planlosigkeit oder mangelndem Ehrgeiz des türkischen Gegenüber auszulegen. Wenn Vertreter maskuliner Kulturen schnell auf den Punkt kommen wollen, sind umgekehrt viele Türken der Auffassung, daß sie es mit sehr unhöflichen und groben Zeitgenossen zutun haben. So versuchen schließlich beide Seiten, ihr Befremden über den Anderen mit der einfachsten aller Lösungen zu meistern: Sich gegenseitig mit Etiketten versehen.
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