Max Frisch : Du sollst Dir kein Bildnis machen!
Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am
mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja
die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen
hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen
Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt
fühlt, wie entfaltet, und das auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das
lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem
Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir
mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solang wir
sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen,
als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren,
nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes
unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse
voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt –
Nur die Liebe erträgt ihn so.
Warum reisen wir?
Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen ein
für allemal; damit wir noch mal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei –
Es ist ohnehin schon wenig genug.
Unsere Meinung, dass wir andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber
Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind –
nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil
unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch
fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir kündigen ihm die
Bereitschaft auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den
Anspruch alles Lebendigen, dass unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert
und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
„Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, „wofür ich dich gehalten
habe.“
Und wofür hat man sich denn gehalten?
Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das
auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose,
der Verrat.
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