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Alt 19.02.2008, 00:06
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Standard Hört nicht auf ihn!

taz 13.2.2008

Hört nicht auf ihn!

Der türkische Präsident Erdogan bezeichnete in seiner Kölner Rede Assimilierung als
"Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Was für ein Unsinn!

VON JAN FEDDERSEN
Man hört es von Grauen Wölfen, Taxifahrer betonen es, am Wochenende hat es der
türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland gesagt, in der
Köln-Arena vor 16.000 ZuhörerInnen. Türkische Migranten in Deutschland wollten
Integration, aber ... ja: Was aber? Keine Anpassung. Denn, so Erdogan,
Assimilierung, wie das böse Wort lautet, sei ein "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit".
Integration, Assimilierung: Zwei Worte, die im Straßendeutsch keine besondere
Bedeutung haben mögen, aber doch in der Politik. Seltsamerweise haben Kanzlerin
und andere jedoch erst spät darauf reagiert. Assimilierung meint nämlich: In
Deutschland sollten alle Türken um Integration kämpfen, sich integrieren - aber
Türken bleiben. Sie sollen gleiche Rechte haben, sich die deutsche Sprache
aneignen, wenngleich er Türkisch als erste Schulsprache fordert.
Integration heißt: In Deutschland mit allen Rechten und Pflichten leben, aber im
Herzen türkisch bleiben, Kulturtürken quasi.
Assimilitation - die mächtige Drohformel offenbar, sonst hätte er sie nicht so
prominent sowohl in Köln als auch vor der Ludwigshafener Brandruine
ausgesprochen - bedeutet im Widerspruch dazu: Anpassung an das Deutsche,
Enttürkisierung. Dass die Kinder von Migranten auf ihre türkischen Wurzeln keinen
gesteigerten Wert legen, wenn sie es wollen; dass sie ein anderes, liberales
Verhältnis zur Geschlechterfrage finden; dass sie Deutschland als ihre Heimat wie
als ihr Vaterland anerkennen - und das in Differenz zur Türkei, das für sie Ausland
ist, kulturell, staatsbürgerlich, politisch. Dass ihre Kanzlerin aktuell Angelika Merkel
heißt und Erdogan allenfalls ein ferner Verwandter aus der Heimat der Vorfahren ist.
Erdogans brisante Floskel muss als Indiz für die Angst des Ministerpräsidenten
genommen werden, dass jene BürgerInnen, die sein Land verlassen oder es noch
tun werden, ihr türkisches Bewusstsein einbüßen, ebenso das nationalistisch
gefärbte Verständnis von Türkentum. Kein Deutscher in den USA, kein Kolumbianer
dort oder ein Vietnamese würde Assimilation an den amerikanischen Weg des
Lebens als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sehen - Assimilierung ist im
Übrigen dort ein täglicher Prozess des Überlebens, also des Ein- wie Vermischens.
Aus der Neurobiologie ist überliefert, dass es keine Integration ohne Assimilierung
gibt. Wer in ein System will, muss sich an es anpassen - und wird sich verändern. So
wie auch das gegebene System sich mit den neuen Teilen verändert.
Gesellschaftlich gesprochen: So wie die Attributierung als deutsch schon immer eine
Chimäre war, eine künstliche Anordnung des nicht Anzuordnenden, so hat sich
dieses Land überhaupt durch die Migranten verändert. Kein Wunder, dass sehr viele
der jungen ZuhörerInnen Erdogans in Ludwigshafen mit Kopfhörern zu sehen waren
- in den Ohren die deutsche Übersetzung der türkischen Rede. Umgekehrt gilt: Döner
und Kebab sind deutsche Speisen, wie auch Namen deutsch werden, etwa Ayse
oder Mohammed. Das lässt viele Deutsche rätseln, ob das in Ordnung sein kann -
aber offenbar auch viele Türken, die um ihre Identität bangen.
Die Formel vom "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wirft aber doch eine Frage
auf: Wenn schon die Einordnung in ein neues Kultursystem, das den Islam als
Minderheit respektiert, das Geschlechtertrennung stetig verhandelt und die
Minderheiten schützt, als krimineller Akt gilt - was ist dann echte Kriminalität?
Dass Erdogans Ansprachen gerade bei nationalbewussten Türken in Deutschland
auf offene Ohren treffen, mag mit der Neigung vieler Türken zu tun haben, die eigene
Nation für das Licht der Welt zu halten, gegen die andere nur verschattet wirken
können. Andererseits wird ihnen dieses Geschäft auch leicht gemacht durch fast alle
Integrationspolitiker, die partout das Deutsche für eine fixe Größe halten und
türkische Migranten für wenig anpassungswillig. In Wahrheit wäre klüger, das
Faktische zu beherzigen: Deutschland ist längst keine Blut- und Boden-Nation mehr,
sondern ein Sammelsurium unterschiedlicher Herkünfte und Traditionen.
Aus der Neurobiologie ist wiederum bekannt: Nur Systeme (und die in ihnen
wirkenden Synapsen), die offen für Einflüsse durch hinzukommende Elemente sind,
überleben. Purifizierungen ("das Deutsche", "das Türkische") sind mit dem wahren
Leben nie in Deckung zu bringen. Die Fähigkeit zur Assimilitation setzt, die
französische Politologin Chantal Mouffe (jüngst in "Über das Politische") recht
verstanden, einen Abschied vom Alten voraus. Und die Lust auf das Neue. Bei den
Neuen wie den Eingesessenen. Vermischung, so Mouffe, stiftet Frieden!