Vorbeter und Oberhaupt
Der Islam wird nach wie vor von Imamen repräsentiert. Die Imame in der Türkei aber sind keine Gelehrten. Sie sind Vorbeter und Beamte des Staates. Ihnen fehlt zumeist die Kompetenz aber auch der Wille, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Die muslimische Gesellschaft jedoch braucht Inspirationen, geistige Provokateure, die auf minenreichen Konfliktfeldern wie dem Geschlechterverhältnis oder dem Verhältnis zu Nichtmuslimen mutig operieren. Die meisten Vertreter der muslimischen Religion neigen zur Beschwichtigung und zum Übersehen von angestauten Konflikten. Eine solche Geisteshaltung aber vertieft nur die Probleme und trägt nichts zum Austausch mit der nichtmuslimischen Welt bei.
Welche moralischen Anregungen gehen heute vom Islam aus? Für den außenstehenden Betrachter ergibt sich ein jämmerliches Bild. Die männlichen Muslime, so scheint es, verbrauchen ihre gesamte geistige Energie, um ihre Frauen zu hüten. Die Frauen müssen geschützt werden vor dem verderblichen Einfluß der modernen Lebensweise. Sie dürfen nicht hinaus aus ihrer dem Mann untergeordneten Rolle. So entsteht ein unterdrückerischer, regressiver Islam, der die traditionelle Deutung von heiligen Quellen zu Dogmen erhebt. Und was tun die Frauen? Sie streiten für ihr Recht, weiter unterdrückt zu sein, beispielsweise weiter das Kopftuch tragen zu dürfen. Dieses Bild ist das Ergebnis einer Jahrhunderte alten Krise, in der das kreative und zeitgemäße Lesen der Quellen versäumt oder als Häresie verfolgt worden ist.
Diese Krise kann nur überwunden werden durch einen radikalen Bruch mit der Tradition und ihren erstarrten Methoden und Sichtweisen. Fragen sind zu stellen an das Menschenbild, das von dieser Tradition überliefert wird, an das Verhältnis der Geschlechter, an das Verhältnis zu Andersgläubigen. Gemäß der islamischen Gesetzgebung, der Scharia, haben Atheisten in der islamischen Welt kein Lebensrecht. Muslimen, die ihre Religion aufgeben, droht die Todesstrafe. Mit solchen Sanktionen stellt sich jeder Glaube, jede Ideologie ins Abseits der menschlichen Zivilisation.
Eine Reform in den theologischen Fakultäten ist unumgänglich. Die Methoden moderner Wissenschaften wie Linguistik, Psychoanalyse und Soziologie müssen in dieses Studium Eingang finden. Eine historisch-kritische Betrachtung von sakralen Quellen wie dem Koran müßte die Grundlage von Forschung und Lehre sein.
Der Islam braucht keine Vorbeter. Die Funktion des Vorbeters kann theoretisch jeder volljährige Muslim ausüben. Der Islam kennt keine Kirche, folglich gibt es auch keine Priesterkaste. Die Institution der Imame ist weder im Koran noch in den Sprüchen des Propheten Mohammed verankert. Sie ist erst in der Tradition entstanden. Heute stellt sie einen Hemmschuh für die Entwicklung der muslimischen Kultur dar. Es ist eine Absurdität, daß in einem laizistischen Staat wie der Türkei solche Vorbeter zu Tausenden ausgebildet und vom Staatssäckel ausgehalten werden. So meint man wohl Kontrolle ausüben zu können über das, was in den Moscheen gepredigt wird. Doch in der Realität führt es nur dazu, einen verknöcherten Islam in die Bevölkerung zu tragen und fest zu verankern.
Wenn der Islam an deutschen Schulen und Hochschulen gelehrt werden soll, brauchen wir einen neuen Ansatz. Wir brauchen Institutionen wie das von dem Religionsphilosophen Franz Rosenzweig im Jahr 1920 in Frankfurt am Main gegründete "Freie Jüdische Lehrhaus", wo auch Ernst Simon und Martin Buber dozierten. Angeboten werden müßten Lehrgänge über Koran-Themen, über die Geschichte des Islam sowie ästhetische, soziale, wirtschaftliche und politische Themen der Zeit mit der Berücksichtigung des säkularen Umfeldes und der philosophischen Fragen unserer Zeit. Der Prozeß der Säkularisierung kann nicht nur institutionell bewältigt werden. Er stellt vor allem auch eine geistige Herausforderung dar. Er beeinflußt die Sprache und somit auch das Denken. Für die deutschen Juden übrigens war die geistige Anstrengung, die mit der jüdischen Aufklärung einherging, eine durchaus kontrovers diskutierte Frage der Emanzipation und somit auch der Integration. Erst durch diese philosophisch angereicherte Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition konnte ein deutsches Judentum entstehen.
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