Bedarf an einem gesitlichen Oberhaupt
1924 wurde in der Türkei das Kalifat abgeschafft. Der Kalif Abdülmecid Efendi mußte das Land verlassen. Fast vierhundert Jahre lang hatte der Osmanische Sultan zugleich den Titel des Kalifen getragen. Er galt als das geistige Oberhaupt aller Muslime auf der Welt.
Abdülmecid Efendi war ein begnadeter Maler. Er malte nicht nur Landschaften in impressionistischer Manier, berühmt war er auch für seine Porträts und Aktbilder. Das Oberhaupt der Muslime als Aktmaler, so etwas ist heute wohl kaum vorstellbar.
Mit der Abschaffung des Kalifats verzichtete die junge türkische Republik freiwillig auf einen wichtigen Verbündeten in der Modernisierung des Landes. Doch der Staatsgründer Mustafa Kemal, der sich später "Atatürk", also Vater der Türken, nannte, wollte allein herrschen. Er duldete keine Konkurrenten und auch keine Brüder im Geiste. So fehlte der Republik in der Durchsetzung der Reformen, die in das kulturelle Selbstverständnis der muslimischen Türken eingriffen, eine geistige Autorität. Ein autoritäres Regime mußte etabliert werden, um die Türkei der westlichen Zivilisation anzunähern. Die überaus starke Rolle des Militärs als Hüter der kemalistischen Reformen ist eine zwingende Folge dieser Ausgangsposition.
Das autoritäre Regime bescherte der Türkei eine janusköpfige Identität. Während Staat und Öffentlichkeit mit ihren Einrichtungen und Repräsentanten sich der europäischen Moderne verpflichteten, blieb die breite Masse der Bevölkerung, vor allem auf dem Land, ihren herkömmlichen Traditionen treu. Die Türkei hatte nun ein vorwärts und ein rückwärts gerichtetes Gesicht.
Erst Ende der achtziger Jahre begann sich in den türkischen Großstädten so etwas wie eine Zivilgesellschaft herauszubilden. Doch Teile dieser Zivilgesellschaft waren muslimisch geprägt. Dieser Islam war alles andere als urban. Er war vielmehr eine Zumutung für alle, die einen modernen, städtischen Lebensstil führen wollten. Die türkische Gesellschaft befand sich in einer tiefen Krise. Zeichen dieser Krise wurden vor allem in einer stärkeren Islamisierung des Alltags gesehen. Sie machte sich aber auch bemerkbar in der Korruption und im moralischen Verfall sowie in einer Politik, die vor Gewalt gegen eigene Bürger nicht zurückschreckte.
Vor zwei Jahren wurde eine Partei an die Regierung gewählt, die versprach, das Land aus dieser Krise herauszuführen. Wird es der Regierungspartei AKP gelingen, die tiefe Kluft zwischen den säkularen und traditionellen Lesarten des Islam in der türkischen Gesellschaft zu schließen? Entsteht so etwas wie ein moderater, urbaner Islam, der die überholten Traditionen und sittlichen Werte über Bord werfen kann und so in der Lage ist, sich den Herausforderungen der Moderne zu stellen? Diese Fragen sind nicht nur für die Zukunft der Türkei wichtig. Sie entscheiden überall in der islamischen Welt darüber, ob langfristig demokratische Systeme aufgebaut werden können.
Ein Abdülmecid Efendi ist freilich nicht in Sicht. Der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat auch keine Ambitionen, sich zum Kalifen ernennen zu lassen. Er ist kein Maler, nicht einmal ein musischer Mensch. Die Autoritätslücke in geistigen Angelegenheiten hemmt zweifelsohne den Entwicklungsprozeß.
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