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Man empört sich – und lechzt
Porno-Fall Kekilli: Doppelmoral, Überanpassung und ein wankendes Tabu
Von Martin Jasper
Man muss Pornofilme nicht mögen. Und man muss auch nicht allzu viel Mitleid mit denen haben, die aus freien Stücken da mitspielen. Mindestens ebenso unappetitlich allerdings ist die Art und Weise, wie die Porno-Vergangenheit der Berlinale-Siegerin Sibel Kekilli ans Licht gezerrt wurde. Das ist diese spezifisch bürgerliche Doppelmoral. Man geilt sich guten Gewissens an etwas auf, indem man es anprangert. Man empört sich – und lechzt.
Genau wurden in "Bild" die sexuellen Praktiken beschrieben, die die junge Deutschtürkin angeblich bevorzugt (als ob das nicht alles PR-Müll der Produzenten wäre). Und die Bilder aus den sieben einschlägigen Filmen wurden genau dort abgeschnitten, wo die männliche Fantasie sich die biologischen Details genüsslich weiter ausmalen kann.
Geschäftstüchtige Videotheken-Besitzer werden die alten Kekilli-Filme jetzt stapelweise ordern: Sie werden weggehen wie heiße Semmeln. Das ist wie früher mit den gefallenen Mädchen. Der Herr gönnte sich seinen Bordell-Besuch. Wehe aber, wenn die eigene Tochter…! Oder die vom Nachbarn!
Andererseits: Je mehr das Bürgertum als kulturprägende Klasse schwindet, desto mehr schwindet auch die Doppelmoral, die mit dieser Klasse in die Welt kam. In dem Stück "Hysterikon" von Ingrid Lausund, das jüngst im Staatstheater aufgeführte wurde, gab es folgende Szene: Da konnte man sich in einem Supermarkt an der Kasse problemlos eine sexuelle Dienstleistung kaufen, die dann von einer jungen Dame auch gleich vollzogen wurde.
So wird’s kommen. Bald werden wir Pornographie im Fernsehen konsumieren können. Auch im "normalen" Kino und in Zeitschriften schwindet die Grenze zwischen Erotik und purem Sex. Kurz: Ein Tabu wird geschliffen.
Man mag das als Ausgang des Menschen aus einer jahrhundertealten Leibfeindlichkeit begrüßen. Man mag es als Ergebnis einer durch und durch aufgeklärten Gesellschaft tolerieren – solange Pornographie freiwillig von Erwachsenen betrieben wird. Und doch bleibt eine gewisse Tristesse, wenn Sexualität ihres Geheimnisses beraubt und wie andere Dienstleistungen auch schnöde kommerzialisiert wird.
So mutet die Aufregung um Kekilli fast ein bisschen altmodisch an. Hätten die junge Frau und ihr Regisseur, der von ihrem Vorleben wusste, gleich vorweg alles bekannt, wäre ihnen vermutlich sogleich das reflexartige Verstehen und Verzeihen à la Uschi Glas entgegen gebrandet.
Und würde es sich nicht ausgerechnet um eine türkischstämmige Frau handeln, hätte es eine mitteleuropäische Frau getroffen, wäre der "Skandal" nicht halb so groß.
Aber ausgerechnet aus jenem Kulturkreis, von dem bei uns das Bild vorherrscht, dass die weibliche Unberührtheit darin heilig, die Sexualität der Frau tabuisiert, ihre sexuelle Freiheit gleich null ist, überrascht diese Enthüllung schon.
Sie wirft auch ein irritierendes Licht auf die Integration der Türken zweiter Generation in die westliche Gesellschaft. Vielleicht ist es so, dass das Normalmaß zwischen der Verhaftung in der eigenen Kultur und der Aneignung der neuen eben doch sehr schwer ist.
So wäre Kekillis Ausflug ins Hardcore-Gewerbe eine Art Überanpassung. Eine Akt der Befreiung aus überkommenen Fesseln, der übers Ziel hinaus geschossen, ins Gegenteil verkehrt ist. Eigene Not, fehlende Orientierung, materielle Überfülle, sexuelle Libertinage. So mag das kommen. Unsere westliche Welt ist verdammt verführerisch – ein Paradies ist sie nicht.
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