Chaos zwischen Kopftuch und Bikini
Chaos zwischen Kopftuch und Bikini
Die Proteste in der Türkei spiegeln die Zerrissenheit des Landes wider: Linke Feministinnen wettern gegen liberale Christen, Nationalisten gegen Muslime.
Von Michael Thumann
Istanbul
Die Türkei gibt der Welt Rätsel auf, aber am meisten verwirrt sie derzeit sich selbst. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Modernste im ganzen Land? So sieht die Schönheitskonkurrenz der türkischen Eliten aus. Jeder hält sich für fabelhaft fortschrittlich und den politischen Gegner bestenfalls für prähistorisch. Jeder findet sich demokratisch und die andere Seite autoritär. Jeder sieht sich selbst bedroht und die anderen als Angreifer. Die anderen, das sind, je nach Standpunkt, die »Islamisten« oder die weltlichen »Nationalisten«. So gab es an den vergangenen Wochenenden ein verblüffendes Schauspiel: Hunderttausende prowestliche Bürger demonstrierten gegen die Regierung, von der die EU-Botschafter im Land und viele Türken sagen, sie sei die prowestlichste seit langer Zeit.
Die Verbohrten, die ebenfalls auf diesen Demonstrationen marschierten, die rechten und linken Nationalisten, die Kommunisten und pensionierten Knüppelpolizisten, sollen hier nicht erwähnt werden. Auch keine Politiker. Interessanter sind jene, die sich für eine westliche Türkei einsetzen, Frauengruppen und säkulare Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie kritisieren die seit 2002 regierende konservativ-muslimische AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdoðan. Und sie repräsentieren einen Teil der wachsenden türkischen Zivilgesellschaft.
Doch um ein vollständiges Bild zu bekommen, fragen wir auch jene, die nicht auf den Demonstrationen waren: Vertreter von ethnischen und religiösen Minderheiten, liberale Intellektuelle. Sie fühlen sich vom grassierenden Nationalismus und gerade nicht von der Regierung bedroht. Und sie gehören zum anderen wichtigen Teil der türkischen Zivilgesellschaft.
Lässt man sie reden, tritt zutage, dass in der Türkei trotz aller Reformbemühungen westliche Werte nur zum Teil übernommen werden oder eine ganz eigene Ausrichtung erhalten. Was zerreißt die türkischen Eliten, wenn sie über ihre Regierung streiten?
Arzu Kayk sitzt in einem dieser freundlich-weltlichen Cafés von Istanbul, wo sich die Sonne im Milchglas bricht, der Cappuccino auf polierten Stahltischen dampft und die Kellnerinnen in hautengen Jeans bedienen. Arzu Kayk trägt die blonden Locken weithin sichtbar und erinnert sich an dunkle Zeiten. Sie war 13, als der alte Nachbar ihre Mutter anschrie, sie solle Arzu im Sommer nicht im Bikini herumlaufen lassen. Er schlug die Jungs, die mit ihr spielten. Er saß vor seinem Haus und pfiff erwachsenen Frauen hinterher. »Für mich war der Typ die fleischgewordene Intoleranz«, sagt die 29-jährige Kayk. Sie leitet heute den Verband für positives Leben, eine NGO, die HIV-infizierten Menschen hilft. Vor zehn Jahren besuchte sie die anatolische Stadt Urfa und trug ein ärmelloses T-Shirt. Männer und Frauen begannen, mit Steinen nach ihr zu werfen. »Das hat meine Einstellung zu Konservativen und Religiösen geprägt«, sagt Arzu Kayk.
Mit welchen Steinen wirft Tayyip Erdoðan? »Für mich repräsentiert er den konservativen Mann und die männliche Kultur, in der Frauen zurückzutreten haben.« Kayk ging auf die Straße, als Premier Erdoðan mit der erdrückenden Parlamentsmehrheit der AKP auch noch den Präsidentenposten mit einem Parteifreund besetzen wollte. Ein Religiöser sollte es sein! Die Verfassung ermögliche dies zwar, aber: »Ist es demokratisch? Erdoðan wollte uns zeigen, dass er alle Macht hat, dass er der Gebieter, dass er der Riese ist.« Kayk möchte »Pluralismus« in der Türkei, und dazu gehört für sie, dass Premier und Präsident eben unterschiedlichen Lagern angehören.
Das ist nicht unbedeutsam. Der noch amtierende Präsident, der säkulare Jurist Ahmet Sezer, blockiert viele Gesetze der Erdoðan-Regierung zur wirtschaftlichen Öffnung der Türkei. Sezer habe dafür gute Gründe, meint Kayk. Erdoðan ergebe sich zu schnell den Vorschriften des Internationalen Währungsfonds, seiner Privatisierung fehle der nationale Plan. »Er kriecht den USA in den Hintern.« Kayk verabscheut die amerikanische Politik und die Globalisierung nach dem Geschmack der Mächtigen. Das Gute an der Globalisierung? Dass neuerdings auch andere ihre Botschaft streuen können. »Hugo Chávez in Venezuela zeigt es den westlichen Großkonzernen und gibt den Menschen den Fisch zum Essen zurück.« Damit sind an unserem Tisch auch der zweite Cappuccino und einige Gläser Tee ausgetrunken.
Die Wirtschaft der Türkei wächst schnell, aber die Ungleichheit auch und damit die Unzufriedenheit. Nazan Moroðlu gehört zur weltlichen Elite des Landes. Die 60-jährige Anwältin und angesehene Frauenrechtlerin sitzt in ihrem edelholzgetäfelten Büro unter dem Kronleuchter. Nicht gerade ein Ort für Revolutionäre. Aber auch sie stört der zu liberale Wirtschaftskurs Erdoðans, gegen dessen Politik sie demonstriert hat. »Ist die Privatisierung zum Wohl des Landes?« In Izmir sei der Hafen an ein Konsortium mit türkischen und ausländischen Firmen verkauft worden. »Es wäre besser«, sagt Moroðlu, »türkische Firmen würden das allein machen, damit strategisch wichtige Industrien in türkischer Hand bleiben.«
Nazan Moroðlus Vorwurf an Erdoðan: »Er führt zwar westliche Reformen durch, aber das ist nicht seine letzte und wahre Absicht.« Vor längerer Zeit hätten er und sein Außenminister die Demokratie noch als Mittel zum Zweck bezeichnet. Moroðlus Frauenverband, der IKKB in Istanbul, hat deshalb mit anderen Frauenorganisationen die große Anti-AKP-Demonstration mitorganisiert. Erdoðans Ehefrau trägt Kopftuch, das sei ein politisches Symbol und eine Provokation für viele Türken. »Wir möchten unseren weltlichen Lebensstil nicht ändern«, sagt Moroðlu.
Doch welche islamische Reform hat Erdoðan den Türken aufgezwungen? Weder gibt es den heiligen Freitag noch ein Alkoholverbot, geschweige denn einen Kopftuchzwang. »Das trauen sie sich nicht, also versuchen sie, kleine Schritte zu gehen.« In einem Dorf bei Alanya habe der AKP-Bürgermeister geplant, Mehrfach-Ehen von Männern zu unterstützen. In einigen AKP-kontrollierten Behörden seien bei Bewerbungen nur Männer zugelassen worden. »Nach dem Protest der Anwaltskammer und der Frauenorganisationen haben sie zurückgesteckt«, sagt Moroðlu. Eine versteckte Agenda also. Wenn Erdoðans Leute diese hätten, wie erklärt sich dann, dass sich die Zahl der Schnapsfirmen verdreifacht hat? »Nun, so ist es, wenn man Dinge verbieten will. Das Gegenteil passiert«, lächelt Nazan Moroðlu.
Ihr Verband kämpft für Frauenrechte im türkischen Alltag, für gender mainstreaming in einer Männergesellschaft und gegen die barbarische Tradition der Ehrenmorde im türkischen, überwiegend von Kurden bewohnten Osten. Wie denkt Moroðlu darüber, dass Erdoðan den Kurden mehr Rechte einräumt als die streng säkularen Regierungen davor – zum Beispiel mit Rundfunksendungen in kurdischer Sprache? »Wir sind ein Staat von Bürgern, keine Addition von Minderheiten«, sagt die Juristin. Erdoðans AKP verstehe das staatsbürgerliche Konzept nicht. »Ein Kurde kann hier alles sein und alles sagen, aber als türkischer Bürger. Und die Landessprache bei uns ist Türkisch.« Die stete Rede über Minderheitenrechte, fügt sie hinzu, komme von außen. »Die Europäische Union ist da ein Problem für die Türkei. In der EU kursieren Karten von Kurdistan. Wir wollen aber unser Land nicht aufteilen lassen.«
Mit dieser Furcht ist Nazan Moroðlu nicht allein. Viele Türken teilen diese Angst – und es gibt ein Beispiel für dieses Szenario. In der Nachbarschaft zerfällt gerade ein Nationalstaat in seine ethnischen und religiösen Einzelteile, der Irak. Auch die Türkei ist ein Staat vieler Ethnien und mehrerer Religionen. Die türkische Zivilgesellschaft ist bunt, und sie ist gespalten. Gerade die Minderheiten, aber auch Istanbuls liberale Intellektuelle waren kaum vertreten auf der Demonstration gegen die Regierung. Warum?
Die Redaktion der armenischen Wochenzeitung Agos in Istanbul wird von einem Polizisten bewacht, der kurz aufblinzelt, wenn jemand vorbeihuscht. Im Februar wurde hier der christliche Chefredakteur Hrant Dink von einem gedungenen minderjährigen Mörder erschossen. Sein Nachfolger Etyen Mahçupyan, der lange im renommierten Forschungsinstitut Tesev gearbeitet hat, hielt sich fern von den Massenkundgebungen der vergangenen Wochen. Beunruhigt ihn die Gefahr des Islamismus nicht? »Papperlapapp. Die Türkei bewegt sich stetig fort vom Islamismus, das zeigen alle soziologischen Studien«, sagt er. Die Zahl der Kopftuchträgerinnen habe in den vergangenen sieben Jahren abgenommen. Und unter den Frauen mit Kopftuch wachse die Zahl sehr selbstbewusster Bürgerinnen. Aber schwimmt nicht die AKP-Regierung auf der islamisch-konservativen Welle? Er seufzt. »Schauen Sie, wir haben eine neue Bourgeoisie von Muslimen in der Türkei«, erklärt er. Sie seien auf wirtschaftlichen Erfolg aus, sie seien individualistisch, sie trennten Politik und Geschäft von ihrem persönlichen Glauben. So würden diese Muslime die Religion modernisieren. Mag sein, aber was hat die AKP damit zu tun? »Die Regierung ist das Produkt dieser Modernisierung der türkischen Muslime. Die Islamisten sind an den äußersten Rand gedrängt worden, die konservative, pragmatische AKP triumphiert.«
Doch werden nicht gerade unter der Regierung Erdoðan Christen umgebracht, so wie sein Vorgänger in der Agos-Redaktion? Mahçupyan seufzt wieder, er sagt all dies offenbar nicht zum ersten Mal. »Moderne Muslime, von denen ich rede, sehen Christen nicht als Bedrohung, sondern als Gläubige anderen Bekenntnisses.« Es seien nationalistische und streng säkulare Türken, welche Christen und vor allem christliche Missionare zur Bedrohung der staatlichen Einheit erklärt hätten. Diese Leute seien ebenso Gegner der AKP-Regierung wie der EU.
Aber die Drohungen gegen seine Zeitschrift Agos? »Kommen von Nationalisten.« Moment mal, aber schmücken die nicht manchmal ihre Parolen mit Koranversen? Ja, es gebe türkische Nationalisten, die Muslime sind, aber gefährlich seien sie nicht wegen des Glaubens, sondern wegen des Nationalismus. Mahçupyan beugt sich weit über seinen Schreibtisch: »Ganz ehrlich, wir Christen ziehen es vor, unter einer konservativ-muslimischen Regierung zu leben als unter einer national-säkularen Regierung.« So hat der Christ Etyen Mahçupyan denn auch schon zweimal AKP gewählt.
Mahçupyan ist in seinen Ansichten kein skurriler Einzelgänger. Im ökumenischen Patriarchat sieht der Sprecher, der griechisch-orthodoxe Pater Dositheos, die Bedrohungslage ähnlich: »Die Mörder der christlichen Missionare sind Nationalisten, die den Islam benutzen, aber auf jeden Fall aus dem nationalistischen Spektrum stammen.« Wie unterschiedlich türkische Politiker damit umgehen, ist Þahin Alpay, Politikprofessor an der Istanbuler Bahceþehir-Universität, aufgefallen. In der Professorenkantine mit Blick auf die asiatische Seite des Bosporus vergleicht er zwei Zitate nach den Morden an den christlichen Missionaren. Premier Erdoðan sagte: »Wir haben 36 verschiedene Völker und andere Religionen und Identitäten, die respektiert werden müssen. In Europa gibt es rund 6000 Moscheen. Wir müssen bei uns den Kirchen und Synagogen die gleiche Sicherheit geben.« Der säkulare Präsident Sezer sagte nur: »Die Menschen müssen ihre Reaktionen demokratisch und gewaltfrei zeigen.« – »Ist es nicht eigenartig«, fragt Alpay, »wie intolerant die säkularen Türken die muslimisch-nationale Identität der Türkei verteidigen im Vergleich zu den aufgeklärten Muslimen um Erdoðan?«
Deshalb findet Ümit Cizre, eine liberale, nichtreligiöse Politikprofessorin von der Bilkent-Universität, die Rede von der versteckten islamischen Agenda der Regierung »absurd«. »Entscheidend ist, was Erdoðan tut, und nicht, was er in der Vorstellung seiner Gegner tun könnte«, sagt sie. Die AKP islamisiere das Land nicht, sie modernisiere es und führe es mit weitreichenden Reformen an die EU heran. Und dazu gehöre die Trennung von Militär und Staatsgeschäften, vorangetrieben durch die Entmilitarisierung des Nationalen Sicherheitsrats. »Aber das gefällt nicht jedem, vor allem nicht der Armee.«
Doch ist Erdoðan das Reformieren zu Kopf gestiegen? Warum besteht er auf einem gläubigen Präsidentschaftskandidaten aus seiner Partei? Þahin Alpay, der einst einer streng säkularen Partei angehörte, hält die AKP für pragmatisch und absolut wählbar für nichtreligiöse Türken. Aber er glaubt auch, dass Erdoðan bei der Präsidentschaftswahl unklug taktierte. Erdoðan habe gewusst, wie wichtig der Präsidentenposten, der Sessel des Staatsgründers Atatürk, für die säkulare Bürokratie sei. »Der Widerstand war zu erwarten«, sagt Alpay. Der Premier hätte deshalb von Anfang an einen Kompromiss mit der nichtreligiösen Opposition suchen sollen, anstatt die Sache parteiintern zu regeln. Zusammen mit der Armee und der Opposition habe er so zur Staatskrise beigetragen.
In dieser Krise stehen sich nun die zwei Flügel der türkischen Zivilgesellschaft unversöhnlich gegenüber: Westen gegen Westen. Ihr widersprüchlicher Blick auf die Regierung gründet auch in ihrer durchaus selektiven Weise, in der sie westliche Ideen verarbeiten. Während die einen die Trennung von Staat und Religion hochhalten, geht es den anderen noch mehr um die Trennung von Politik und Militär. Die Staatskrise dürfte, wenn es gut geht, durch die Parlamentswahl im Sommer entspannt werden. Wenn es nicht gut geht, könnte sich die Armee der Sache annehmen. Dann wird es auf die Zivilgesellschaft nicht mehr ankommen.
DIE ZEIT, 10.05.2007 Nr. 20
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