38 Prozent der Türken wollen Europa

Schon 1959 stellte die Türkei den Antrag zur Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die damals noch EWG hieß und bereits vier Jahre später wurde das Assoziierungsabkommen unterzeichnet. Der damalige Kommissionspräsident der EWG Walter Hallstein (CDU) stellte zu der Zeit fest: "Die Türkei gehört zu Europa". Als der Europäische Rat 2004 die Beitrittsverhandlungen aufnahm, war dies Anlass zur großen Freude und wurde mit Feuerwerk und Gesang in der Türkei gefeiert. Premierminister Erdogan jubelte: "Wir haben es geschafft, der Weg ist frei". Sechs Jahre später kehrt Ernüchterung ein. Der Beitrittsprozess ist festgefahren und von 35 Verhandlungskapiteln konnte gerade mal ein einziges abgeschlossen werden. Die Türke hat inzwischen auch verstanden, dass der Beitritt in eine unabschätzbare Ferne gerückt ist.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass niemand den EU-Beitrittsprozess mehr ernst nimmt. Finanzminister Simsek sagte sogar kürzlich, es komme auf den Beitritt "letztlich gar nicht an. Mit den Reformen werden wir so oder so weitermachen, für unser Land und seine Menschen". Auch wenn Außenminister Ahmet Davutoglu versichert, der EU-Beitritt habe Priorität sieht sich die Regierung längst nach anderen Optionen um.

Anfang Dezember unterzeichnete sie mit Syrien, Libanon und Jordanien ein Abkommen über engere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der "erste Schritt zu einer Union der Nahost-Staaten" sei damit getan, erläuterte der syrische Transportminister Yaraub Badr – inklusive einer Zoll- und Währungsunion.

Das Gebilde der Nahost-Staaten Union gewinnt bereits deutlich Gestalt an. Sie umfasst neben den vier Gründungsmitgliedern auch Iran, Irak, Kuweit, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jemen, Oman und Bahreain. Die Union ist somit eine Region mit 270 Millionen Einwohnern und einem Handelsvolumen von rund 1 000 Milliarden Dollar. Dem türkischen Außenminister Davutoglu schwebt sogar eine "Zone der wirtschaftlichen Integration" von der Türkei bis nach Marokko, Sudan und Golf von Aden vor.

All diese Engagements zeigen, dass die neue türkische Ostpolitik stark wirtschaftlich geprägt ist.

Viele der europäischen Volkswirtschaften, in denen die türkischen Exporteure rund 70% Prozent ihrer Erzeugnisse absetzen, erlahmen. Die türkische Wirtschaft hingegen wuchs im ersten halbjahr um 11%. Neue Absatzmärkte erschließt die Türkei vor allem im Nahen Osten, Mittelasien und Nordafrika. EU-Diplomaten sind der Ansicht, dass die Türkei durch ihre enge Beziehungen zur arabischen Welt für Europa nur noch mehr an Bedeutung gewinne.